© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/18 / 14. September 2018

Deutsch-jüdische Identität in Feldpostbriefen des Ersten Weltkriegs
Jederzeit neu artikulierbar
(ob)

Schätzungsweise dreißig Milliarden Briefe und Postkarten wechselten während des Ersten Weltkrieges zwischen Front und Heimat. Unabhängig von Nationalität, militärischem Rang und sozialer Stellung der Kombattanten beschreiben sie existentielle Erfahrungen von Gewalt, Tod, Not und Heimweh. Ein Hauptinteresse der Forschung dieses erst ansatzweise ausgewerteten Archivs richtet sich dabei auf jene Masse der Feldpostbriefe, die als „identitätsstiftende Alltagsgespräche unter Kriegsbedingungen“ zu lesen sind. Unter diesem Aspekt wurde wiederum den Briefen jüdischer Soldaten erhöhte Aufmerksamkeit zuteil. Sie fallen aus dem Rahmen, weil sich darin, wie Constantin Sonkwé Tayim (Yaoundé/Kamerun) in seiner Studie über das „Grenzgängertum deutsch-jüdischer Soldaten“ feststellt (Zeitschrift für deutsche Philologie, 2/2018), das „allgegenwärtige Bewußtsein einer doppelten Verantwortung, gegenüber dem Vaterland und dem Judentum“ niederschlägt. Für den afrikanischen Germanisten stehen dabei jedoch weniger Patriotismus, Tapferkeit, Glaube und „Treue zur Heimat“ im Brennpunkt als die „Erfahrung kultureller Differenz“. Sie ermöglichte „produktive Desorientierung“ und vermittelte die Gewißheit, daß kollektive Identitäten „jederzeit neu artikulierbar“ seien, weil das „Wir“ sich auf Deutsche wie Juden als auch auf beides beziehen könne.  


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