© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/18 / 14. September 2018

Drei Arten der Zuwanderung und die Lehren aus der Geschichte
Selten wertvoller als Gold
Ludwig Witzani

Der Motor der Weltgeschichte ist die Bewegung. Menschen bewegen sich im Raum von einem Ort zum anderen, und das aus allen nur denkbaren Gründen. Flieht jemand vor seinen Verfolgern wie etwa die heilige Familie vor den Häschern des Herodes, nennt man das „Flucht“. Hat man als Grund seiner Wanderung sein Seelenheil vor Augen, bezeichnet man das als „Wallfahrt“. Ist man lange unterwegs, ohne wirklich zu wissen, wo es langgeht, spricht man von einer „Odyssee“. Macht man es nur aus Vergnügen, nennt man es „Reisen“. Und wenn sich sehr viele gemeinsam von einem Ort zum anderen bewegen, nennt man das „Völkerwanderung“ oder im Neudeutsch: Massenmigration.

„Völkerwanderung“ ist natürlich ein komplexer Begriff. Ab wann ist es berechtigt, von einem „Volk“, einer „Horde“, einem „Stamm“ oder einer „mobilen Ethnie“ zu sprechen? Und welche Rolle spielt die Freiwilligkeit einer solchen kollektiven Ortsveränderung? Als die Komantschen die Rocky Mountains verließen, um in der Prärie die Büffel zu jagen – machten sie das freiwillig oder weil ihnen der Magen knurrte? Und wie verhielt es sich mit den spanischen Mauren, die im Jahre 1609 von Philipp III. von Spanien aus dem Land gewiesen wurden? Sie wanderten nicht freiwillig aus, besaßen aber eine gewisse Freiheit in der Wahl ihrer Zufluchtsorte: Sie konnten sich nach Fes in Marokko, nach Tlemcen in Algerien oder nach Tunis wenden. Europäische Auswanderer im 19. Jahrhundert hatten die Wahl zwischen den Vereinigten Staaten, Südamerika oder Australien. Und daß sich muslimische Migranten auf ihrem Weg nach Europa genau dorthin wenden, wo sie das höchste Versorgungsniveau erwartet, wird ihnen niemand übelnehmen können. Alle wenden sich dorthin, wo sie für sich die größten Chancen sehen.

Soweit die Mobilität aus der Sicht der Mobilen. Wie aber steht es mit der Mobilität aus der Perspektive der Einwanderungsgebiete? Ist Einwanderung per se auch für die Zielgebiete positiv? Beschränkt man sich strikt auf den sozio-ökonomischen und infrastrukturellen Nutzen beziehungsweise Schaden der Zuwanderung für die Zuwanderungsgebiete, wird man mindestens drei Arten von Einwanderung unterscheiden können.

Der elementarste Fall ist die strukturbegründende Einwanderung. Jochen Oltmer hat solche strukturbegründenden Einwanderungen in seinem Standardwerk über „Globale Migration“ als „Inwertsetzung“ bezeichnet. Große Teile der europäischen Auswanderungsgeschichte der Neuzeit bestehen aus solchen Inwertsetzungen peripherer Wirtschaftsräume – etwa die Erschließung Australiens, Südafrikas oder Amerikas durch europäische Einwanderer. Es gehört zur Tragik der Migrationsgeschichte, daß solche strukturbegründenden Einwanderungen fast immer mit Marginalisierungen der autochthonen Bevölkerung verbunden sind. Der rein ökonomisch definierte Begriff der Strukturbegründung darf also nicht verdecken, daß er oft mit der Vernichtung weniger differenzierter sozialer Systeme verbunden ist.

 Beispiele für eine strukturreduzierende Zuwanderung sind etwa die Neubesiedlung des Sudetenlandes durch die Tschechen und die Zuwanderung zentralasiatischer Sowjetbürger in das von der deutschen Bevölkerung geräumte Ostpreußen. 

Die Beispiele für solche strukturbegründenden Einwanderungen sind Legion und können in allen Regionen der Erde auf den verschiedensten Abstraktionsebenen nachgewiesen werden. Deutsche Einwanderer begründeten in der Mitte des 19. Jahrhunderts zwischen Valdivia und Puerto Varas in Süd-Chile nicht nur eine produktive Landwirtschaft, sondern schufen vorweg überhaupt erst die dafür erforderliche Infrastruktur. Ähnlich verhielt es sich mit den britischen Schafzüchtern in Feuerland. Den aus dem Nahen Osten zugewanderten islamischen Mozabiten gelang in den Steinwüsten der nördlichen Sahara praktisch aus dem Nichts heraus die Etablierung einer blühenden Oasenwirtschaft. Die altmalaiischen Ifuago im Norden Luzons verdrängten die Urbevölkerung und errichteten ihre atemberaubende Reisterrassenkultur. Die chilenischen Mapuche, die Sahara-Nomaden und die altphilippinischen Negritos hatten das Nachsehen, ebenso wie die kanarischen Guanchen gegenüber den spanischen Siedlern und unzählige andere weniger adaptive Kulturen in allen Teilen der Erde.

Von dieser strukturbegründenden Einwanderung kann die strukturerhaltende oder strukturkumulierende Zuwanderung unterschieden werden. Den wirtschaftsgeschichtlich bedeutsamsten Fall solcher kumulativer Zuwanderung bildet die europäische Massenmigration in die USA in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dort trafen die europäischen Einwanderer auf eine expandierende arbeitsintensive Wirtschaftsstruktur, die dringend neue Arbeitskräfte benötigte. Auch die chinesische Migration nach Nordamerika im Rahmen des Eisenbahnbaus und die Etablierung des ostafrikanischen Kleinhandels durch indische Einwanderer innerhalb der europäischen Kolonialreiche gehören in diese Kategorie. Das gleiche galt für die Polen, die nach 1863 ins Ruhrgebiet kamen, ebenso für die südeuropäischen Gastarbeiter der ersten Generation in den frühen sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Ein für das Aufnahmeland sehr positiver Sonderfall einer vom Aufnahmeland ausdrücklich geförderten strukturerhaltenden Zuwanderung vollzieht sich zur Zeit als Fluchtbewegung weißer südafrikanischer Farmer von Südafrika nach Australien.

So weit, so positiv. Regionen sind auf strukturbegründende und strukturerhaltende Zuwanderung angewiesen. Gibt es aber auch Beispiele für eine zerstörerische, strukturvernichtende oder mindestens strukturreduzierende Zuwanderung? Leider eine große Menge, auch wenn die politisch korrekte Höflichkeit der Historiker um dieses Thema gern einen weiten Bogen macht. Beispiele für eine strukturreduzierende Zuwanderung sind etwa die Neubesiedlung des Sudetenlandes durch die Tschechen und die Zuwanderung zentralasiatischer Sowjetbürger in das von der deutschen Bevölkerung geräumte Ostpreußen. In beiden Fällen konnte das infrastrukturelle und ökonomische Niveau nicht gehalten werden.

Eines der krassesten Beispiele für die Effekte strukturvernichtender Zuwanderung liefert die Geschichte Tunesiens. Tunesien, das alte „Ifriqa“, war seit der strukturbegründenden Einwanderung der Phönizier eine der Kornkammern des Mittelmeerraumes. Daran hatte auch die Zuwanderung römischer Kolonisten, germanischer Vandalen und arabischer Aghlabiden nichts geändert. Bis die Banu Hilal kamen, ein kriegerischer Nomadenstamm, den die Fatimidenkalifen von Kairo im 11. Jahrhundert in das verfeindete Tunesien schickten. „Wie die Heuschrecken“, so der marokkanische Historiker Ibn Khaldun, fielen die Banu Hilal über die Provinz her und zerstörten die komplizierte Infrastruktur, auf der die Landwirtschaft Tunesiens beruhte. Die Bewässerungsanlagen versandeten, die Herden der Banu Hilal fraßen die fetten Böden kahl, die Felder verkarsteten, eine ganze Kulturlandschaft verschwand im Orkus der Geschichte. In ihren desaströsen Folgen ist die strukturvernichtende Einwanderung der Banu Hilal und ihrer Herden nach Tunesien nur vergleichbar mit der Verwüstung, die mongolische Viehzüchter auf den Feldern Nordchinas anrichteten, als sie ihre Herden auf den chinesischen Äckern grasen ließen.

Schweden, das seine einwanderungseuphorische Politik bis vor kurzem noch exzessiver betrieb als Deutschland, wird nach einem Bericht der Vereinten Nationen von 2010 bis zum Jahre 2030 auf das Niveau eines Drittweltlandes herabsinken. 

Wie verhält es sich aber mit der bedeutendsten Einwanderungsbewegung der Gegenwart, der muslimischen Massenzuwanderung nach Europa? Douglas Murray hat in seinem Buch „Der Selbstmord Europas“ gezeigt, daß dieser Prozeß schon in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts einsetzte und in der deutschen Grenzöffnung des Jahres 2015 nur seinen bizarren Höhepunkt erreichte. Handelt sich dabei um eine strukturbegründende, strukturerhaltende oder eine strukturvernichtende Zuwanderung? Daß sich diese Zuwanderung gegen den Mehrheitswillen der einheimischen Bevölkerung vollzieht, ist geschichtlich nichts Außergewöhnliches, denn Eliten haben zu allen Zeiten Zuwanderungen ohne Mitwirkung der autochthonen Bevölkerung ins Werk gesetzt. Man denke nur an die Ansiedlung der Wolgadeutschen durch Katharina die Große oder die Einladung der Hugenotten durch den Großen Kurfürst Friedrich Wilhelm nach Brandenburg-Preußen. Auch daß dieser Prozeß zu erheblichen Friktionen führt, ist nichts Besonders, denn Zuwanderungen erzeugen immer gesamtgesellschaftlichen Streß.

Bleibt die legitime Frage nach dem Nutzen der muslimischen Massenzuwanderung. Zweifellos sind die demographisch schrumpfenden europäischen Gesellschaften auf Zuwanderer angewiesen, um das hochentwickelte Niveau ihrer gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung zu halten. Aber auf welche Zuwanderer? Der Einwanderungsbedarf postmoderner europäischer Wissensgesellschaften bezieht sich auf hochqualifizierte und kulturkompatible Spezialisten, die im Interesse der Strukturerhaltung notfalls mit Privilegien angeworben werden sollten. Die generationenlange europaweite Einwanderung von Millionen teilweise tribalistisch verfaßter, beruflich gering qualifizierter Einwanderer aus einem gänzlich anderen Kulturbereich mit hoher Gewaltaffinität kann unter dem Aspekt des wirtschaftlichen Nutzens für die Aufnahmegesellschaft nicht ernsthaft gerechtfertigt werden.

Dementsprechend desaströs sind die Folgen. Schweden, das seine einwanderungseuphorische Politik bis vor kurzem noch exzessiver betrieb als Deutschland, wird nach einem Bericht der UN, dem „Hypothetical Cohort Model of Human Development Report“ aus dem Jahre 2010, bis 2030 auf das Niveau eines Drittweltlandes herabsinken. Ausgehend vom Zusammenbruch des Bildungssystems werden das wirtschaftliche und zivilisatorische Niveau Schwedens ebenso einbrechen wie seine Sicherheits- und Versorgungsstandards.

Die Aussichten für Deutschland, Frankreich und England sind kaum günstiger, auch wenn die regierenden Eliten samt ihrem Anhang in Presse und Funk ihr Bestes tun, diese einwanderungsbedingten Abstiegsprozesse zu verheimlichen. Äußerungen wie, die „Flüchtlinge“ (gemeint sind Zuwanderer) seien „wertvoller als Gold“ (Martin Schulz, Ex-SPD-Chef) oder „die Zuwanderer von heute werden unsere Renten von morgen bezahlen“ (Thomas Oppermann, Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion) zeigen, daß die strukturvernichtende Einwanderung, die Europa zur Zeit erleidet, auch ein Elitenproblem ist.






Dr. Ludwig Witzani, Jahrgang 1950, ist Reiseschriftsteller und Autor einer bislang zehnbändigen Weltreise-Reihe mit Einzelbänden über Tibet, Indien, Argentinien/Chile, Osteu­ropa, Indochina, Iran, Alaska, Süd- und Nordafrika und Indonesien. Alle im Text erwähnten historischen Beispiele werden in diesen Reisebüchern ausführlich dargestellt. Auf dem Forum setzte er sich zuletzt damit auseinander, ob unsere Gesellschaft im übertragenen Sinne kollektiv Alzheimer habe („Verlust kultureller Identität“, JF 16/18).

Foto: Gruppe von europäischen Einwanderern auf Ellis Island, der Kontrollstelle vor New York: Bei der Massenmigration aus Europa in die USA in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts handelte es sich um Zuwanderung, die strukturerhaltend wirkte: Kulturkompatible Einwanderer trafen auf eine expandierende arbeitsintensive Wirtschaftsstruktur, die dringend neue Arbeitskräfte benötigte