© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/18 / 14. September 2018

Die Grenzen der Natur
Organspenden: Gesundheitsminister Jens Spahn plädiert für eine doppelte Widerspruchslösung
Konrad Adam

Mit seiner Absicht, dem Mangel an transplantationsfähigen Organen abzuhelfen, hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn auf einem alten Tummelplatz ein neues Spiel eröffnet. Während das Verpflanzen von Zentralorganen wie Herz und Lunge bisher an die Einwilligung des Spenders oder seiner Angehörigen gebunden war, soll in Zukunft die doppelte Widerspruchslösung gelten. Wer nicht ausdrücklich widerspricht oder von Dritten widersprechen läßt, muß damit rechnen, daß seinem toten Körper lebenswichtige Organe, soweit brauchbar, entnommen und einem anderen eingepflanzt werden. Spahn will die Umkehr der Beweislast, will die Ausnahme zur Regel machen.

Die Transplantationsmedizin soll wachsen. Voraussetzung für ihr Aufkommen war seinerzeit die Neubestimmung des Todes. Der „klassische“ Herztod und sein Indiz, der Atemstillstand, sei als Abgrenzungskriterium zwischen Tod und Leben nicht mehr tauglich, meinte ein einschlägiger Kommentar schon vor Jahren, die fortgeschrittene Medizin habe etwas anderes, Besseres an seine Stelle gesetzt. Nachfolger des Herztodes wurde der Hirntod, und dafür gab es Gründe. Nur dieser erlaubte es ja, dem Sterbenden Organe zu einem Zeitpunkt zu entnehmen, in dem das Herz noch schlug. Was wiederum Bedingung dafür war, das rettende Organ zu einem Zeitpunkt zu gewinnen, in dem es zu Transplantationszwecken brauchbar war.

Nachdem das Hindernis beseitigt war, rechneten Gesetzgeber und Transplantationsmediziner auf die wachsende Bereitschaft der Leute, einen Spenderausweis zu erwerben und ihre Organe nach dem Tod zur weiteren Verwendung freizugeben.

Aber die Rechnung ging nicht auf, entgegen den hochgespannten Erwartungen blieb das Angebot an transplantationsfähigen Organen weit hinter der wachsenden Nachfrage zurück. Den Mangel an Spendern nennt Spahn denn auch als das entscheidende Motiv für seinen neuen Vorstoß. Die Widerspruchslösung soll das Angebot erweitern und den Engpaß beseitigen, indem sie jeden nicht ausdrücklich vermerkten Einspruch als stillschweigende Zustimmung bewertet. 

Die Sprache ist verräterisch. Es ist kein Zufall, daß in einer Debatte, bei der es buchstäblich um Tod und Leben geht, Begriffe wie Angebot und Nachfrage, Vorrat und Bedarf, Anreizstrukturen und Kostenbewußtsein so auffällig dominieren. Sie sind ein äußeres Zeichen dafür, daß nun auch die Gesundheit, die ärztliche Kunst, die Wissenschaft der Medizin, ja überhaupt die Bereitschaft, zu helfen und für andere da zu sein, unter die Herrschaft von Ökonomen geraten ist, für die das Leben aus roten und schwarzen Zahlen besteht und aus sonst nichts. Nach allem, was wir mit der Kommerzialisierung immer weiterer Lebensbereiche erlebt haben, darf man bezweifeln, daß diese Entwicklung in der Medizin weniger Schaden anrichten wird als im Sport, in der Kunst, in der Bildung oder sonstwo.

In einer alternden Gesellschaft wie der deutschen wächst neben der Lebenserwartung zwangsläufig auch die Anfälligkeit für Krankheiten, Ausfallerscheinungen, Unpäßlichkeiten und Leiden aller Art. Um mit diesen Schattenseiten des galoppierenden Fortschritts fertig zu werden und ihre großzügigen Versprechen einzulösen, ist die Transplantationsmedizin auf ein hinreichend großes Angebot von frischen und möglichst jungen Ersatzorganen angewiesen. Bleibt das hinter der Nachfrage zurück, muß man ein bißchen nachhelfen, die Menschen drängen, den Druck erhöhen. Das ist der Sinn der Widerspruchslösung, mit der sich Jens Spahn auf der Höhe der Zeit befindet.

Er selbst sieht das natürlich anders. Wenn er für seine doppelte Widerspruchslösung um Unterstützung wirbt, spricht er vom aktiven Gebrauch der Freiheit. Aber was bleibt von der Freiheit, wenn ihr Gebrauch von der Regierung vorgegeben, gelenkt und programmiert wird? Jens Spahn läßt seinen schönen Worten denn auch einen sanften Vorwurf folgen, indem er uns daran erinnert, daß jeder von uns nicht nur Spender, sondern auch Empfänger eines lebensrettenden Organs werden könne. Mit anderen Worten: Überlege dir, ob du nicht selbst gern haben würdest, was du den anderen verweigerst. Der Widersprechende ist ein Egoist, der nehmen, aber nicht geben will?

Richtig ist daran nur so viel, als es an den alten sozialpolitischen Grundsatz erinnert, wonach Nehmen Geben voraussetzt und Leistung nach einer Gegenleistung verlangt. Richtig ist aber auch, daß man auf beides verzichten kann, und das tue ich, wenn ich erkläre, weder geben noch nehmen zu wollen. Ich will es deshalb nicht, weil ich es vorziehe, mich innerhalb der Grenzen zu halten, die uns von der Natur selbst vorgezeichnet worden sind. Ein Gesetz, das dazu einlädt, nicht nur Hornhaut oder Gehörknöchelchen, sondern auch größere Organe, ja ganze Körperteile für austauschbar zu halten, sprengt diese Grenzen und verstößt gegen das, was früher als Naturrecht galt.

Der Wunsch nach lebensverlängernden – also nicht bloß lebenserhaltenden! – Eingriffen hat jedes vernünftige Maß überschritten. Ruft man sich in Erinnerung, wie da eine Hürde nach der anderen abgeräumt worden ist, wie die Zustimmungs- durch die Widerspruchslösung verdrängt werden soll, wie die Organspende von Sozialpolitikern der Volksparteien als bürgerliche Pflicht, von manchen Kirchenführern sogar als zeitgemäße Form der Nächstenliebe verklärt worden ist – hält man sich das vor Augen, kann einem beim Blick in die Zukunft schwindelig werden. Die wird dann von Figuren wie Ray Kurzweil bevölkert, der alles daransetzt, lang genug zu leben, um ewig leben zu können: so Kurzweils menschenfreundliche Devise.

Vor diesem Hintergrund kommen mir Organspenden in großem Stil, womöglich noch als Kassenleistung, wie Schritte auf einem Weg vor, dessen Ziel der erwähnte Kurzweil, erkennbar ohne jeden Anflug von Humor, durchblicken ließ, als er auf die Frage, ob es Gott gebe, antwortete: Noch nicht. Solchen Ansprüchen gegenüber halte ich mich an die bekannte Auskunft, wonach das menschliche Leben siebzig und, wenn es hochkommt, achtzig Jahre währt. Die Medizin täte gut daran, es ebenso zu machen, sich also auf ihren hergebrachten Auftrag zu besinnen, der sie dazu verpflichtet, die Gesundheit zu bewahren oder wiederherzustellen, aber nicht, Leben zu schenken. Und der Gesetzgeber täte gut daran, sie dabei zu unterstützen.