© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/18 / 14. September 2018

Die verlorene Ehre der Stadt C.
„Hetzjagden“ in Chemnitz – im Plural, im Singular oder gar nicht? Die Karriere einer Behauptung, die vom Antifa-Milieu über die Medien ins Kanzleramt führt. Eine Chronologie.
Christian Rudolf

Hetzjagden. Ein Begriff wie ein Hexenhammer. Bestens geeignet zur Verfolgung von Kritikern der Merkelschen Flüchtlingspolitik und ihrer oft tödlichen Folgen. Einsetzbar gegen rechtsradikale Hooligans und Neonazis wie gegen die demokratische Rechte. Chronik einer Interpretationsschlacht.


Sonntag, 26. August:

Am Rande eines Stadtfestes in Chemnitz wird in den frühen Morgenstunden im Stadtzentrum der 35 Jahre alte Familienvater Daniel H. durch viele Messerstiche getötet. Zwei weitere Deutsche werden schwer verletzt. Als dringend Tatverdächtige gelten ein Syrer und zwei Iraker, zum Teil vorbestraft.

Rund tausend Personen demonstrieren gegen Ausländergewalt. Gegen 15 Uhr versammelten sich rund 100 Demonstranten zu einer Kundgebung der AfD. Laut Polizei verläuft sie ohne Zwischenfälle. Anschließend folgen dem MDR zufolge 800 bis 1.000 Personen einem Aufruf der Ultra-Vereinigung Kaotic Chemnitz unter dem Motto „Zeigen, wer in der Stadt das Sagen hat“. Die Stimmung ist aufgeheizt. Die Polizei versucht mehrfach, die Demonstration zu stoppen. Am späten Nachmittag verbreiteten linksextreme Gruppen, Einzelpersonen und Journalisten in sozialen Netzwerken, es habe „Hetzjagden“, „Jagd auf Migranten“ gegeben.

Der freie Journalist Johannes Grunert (Zeit Online, „Störungsmelder“-Blog) twittert von „Jagdszenen gegenüber Migrant*innen an der Zentralhaltestelle, dem Johannisplatz und dem Johanniskichenparkplatz“.

Spiegel Online berichtet am Abend: „Aktivisten melden Übergriffe auf Migranten“. Weitere überregionale Medien verbreiten den Terminus der „Hetzjagden“. Die Amadeu-Antonio-Stiftung twittert: „Jagdszenen auf Migranten“, Amnesty International Sachsen: „rassistische Hetzjagd“.

Eine Schlüsselrolle spielt eine 19 Sekunden lange, aus dem Zusammenhang gerissene Videoaufnahme, die über soziale Netzwerke verbreitet wird. Der Ausschnitt setzt unvermittelt ein und zeigt eine aggressive deutsche Männergruppe, die auf Höhe der Straßenbahnhaltestelle Stefan-Heym-Platz die Fahrbahn der je Richtung vierspurigen Bahnhofsstraße betreten hat. Von der Gruppe lösen sich im Laufe einiger Augenblicke spontan drei Personen, die zwei ausländisch wirkende junge Männer in die Flucht schlagen und ihnen über zwei Fahrspuren hinweg nachsetzen. Die Beteiligten rufen „Haut ab“, „Was wollt ihr, ihr Kanaken“, „Unsere Stadt hier!“, „... nicht willkommen!“, aus dem Off spricht eine Frauenstimme „Hase, du bleibst hier“. Die Schattenwürfe beweisen, daß sich das Geschehen am Spätnachmittag abgespielt hat.

Die Aufnahme wird von dem privaten Twitter-Account „Antifa Zeckenbiß“ als eines der ersten Videos aus Chemnitz am Sonntag abend um 20.56 Uhr veröffentlicht, um 21.02 Uhr auf deren Facebook-Account. Grunert twittert das Antifa-Video über seinen Account weiter.

Montag, 27. August:

Die Bundesregierung verurteilt die Demonstrationen: „Solche Zusammenrottungen, Hetzjagden auf Menschen anderen Aussehens, anderer Herkunft, oder der Versuch, Haß auf den Straßen zu verbreiten, das nehmen wir nicht hin“, sagt Regierungssprecher Steffen Seibert.

Am Montag abend werden bei neuen Protesten rechter und linker Demonstranten nach Angaben der Polizei 20 Menschen verletzt. Aus einem Pulk mehrerer hundert Demonstranten heraus skandieren Teilnehmer: „Ausländer raus, Deutschland den Deutschen“ und „Merkel muß weg!“, eine kleine Gruppe ruft „Wir sind die Krieger! Wir sind die Fans! Adolf Hitler Hooligans!“ Bei den Rufern soll es sich laut Szenebeobachter Robert Claus um Hooligans des Regionalligisten 1. FC Lokomotive Leipzig handeln. 

Dienstag, 28. August:

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sagt in bezug auf die Demonstrationen und Ausschreitungen: „Wir haben Videoaufnahmen darüber, daß es Hetzjagden gab, daß es Zusammenrottungen gab, daß es Haß auf der Straße gab, und das hat mit unserem Rechtsstaat nichts zu tun.“

Außenminister Heiko Maas (SPD) äußert sich ähnlich: „Wir müssen immer sehen, daß dies Bilder sind, die auch im Ausland betrachtet werden.“

Der Chefredakteur der in Chemnitz erscheinenden Freien Presse, Torsten Kleditzsch, äußert sich in einem Gespräch mit dem Sender Deutschlandfunk Kultur zurückhaltend: „Am Anfang wurden sehr viele Erzählungen weitergeschrieben, das heißt, auch in einer übertriebenen Art und Weise.“ Obwohl mehrere FP-Reporter vor Ort gewesen seien, hätten sie keine „Hetzjagden“ beobachtet. Es habe „sehr vereinzelte Fälle aus dieser Demonstration heraus“ gegeben, „vereinzelte Attacken auf Polizisten und Gegendemonstranten mit linkem oder Migrationshintergrund“, aber das habe „mit einer Hetzjagd im eigentlichen Sinne nichts zu tun“.

Freitag, 31. August:

„Nach allem uns vorliegenden Material hat es in Chemnitz keine Hetzjagd gegeben“, sagt der Sprecher der Generalstaatsanwaltschaft Sachsen (Dresden), Wolfgang Klein, dem Online-Magazin „Publico“ nach der Auswertung von Videoaufnahmen. 

Montag, 3. September:

Von einem Journalisten der JF mit der Aussage der zuständigen Ermittlungsbehörde konfrontiert, will Regierungssprecher Seibert keine „semantische Debatte“ über ein Wort führen. Den Begriff „Hetzjagd“ verwendet er nicht mehr. Seibert insistiert aber, „daß Filmaufnahmen zeigen, wie Menschen ausländischer Herkunft nachgesetzt wurde und wie sie bedroht wurden.“ 

Mittwoch, 5. September:

„Es gab keinen Mob, keine Hetzjagd und keine Pogrome“, sagt Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) in seiner Regierungserklärung. 

Donnerstag, 6. September:

Das Bundespresseamt gibt zu, daß sich die Bundesregierung in ihrer Beurteilung des Demonstrationsgeschehens auf das Kurzvideo des Antifa-Accounts gestützt hat: „Zu diesem Zeitpunkt [27. August] existierten in den sozialen Medien bereits vielfach verbreitete Schilderungen der Geschehnisse, darunter auch eine Videoaufnahme, die zeigt, wie Demonstranten ... Migranten ... in die Flucht jagen“, erklärt Seibert auf eine schriftliche Anfrage des stellvertretenden Vorsitzenden der AfD-Bundestagsfraktion, Leif-Erik Holm. Die Zitate aus der Tonspur zeigen, daß es eindeutig um dieses Video geht.

Am Abend veröffentlicht die Bild-Zeitung Aussagen des Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen. Seiner Behörde lägen „keine belastbaren Informationen“ darüber vor, „daß solche Hetzjagden stattgefunden“ hätten. Für die Authentizität des im Internet kursierenden Antifa-Videos gebe es „keine Belege“. Er vermutet eine gezielte Falschinformation. Ein Affront gegen das Kanzleramt. Maaßen gehört zu den Kritikern von Merkels Flüchtlingspolitik. Indizien für seine Thesen präsentiert Maaßen zunächst nicht. Der Chef des Inlandsgeheimdienstes habe die vorläufigen Erkenntnisse auf Geheiß seines Dienstherren, Bundesinnenminister Horst Seehofer, veröffentlicht, berichtet Focus Online.

Freitag, 7. September:

Maaßen gerät unter Druck von seiten der SPD, der Grünen, der FDP und der Linken. Er schüre Verschwörungstheorien und solle Belege für seine Zweifel beibringen. Seehofer spricht Maaßen sein „volles Vertrauen“ aus.

„Wem glaube ich jetzt eher?“, fragt der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne) via Facebook, quer zu seiner Partei. „‘Antifa-Zeckenbiss’ oder dem Präsidenten des Verfassungsschutzes?“

Samstag, 8. September:

Seehofer geht in der ARD auf Distanz zu Maaßen und fordert ihn auf, bis Montag einen Bericht vorzulegen, in dem er seine These begründet. 

Montag, 10. September:

Der Bericht ist in Innenministerium und Kanzleramt eingegangen, aber noch nicht öffentlich. Dem Vernehmen nach zieht Maaßen die Echtzeit des Videos nicht mehr in Zweifel. Mit seinen Aussagen in der Bild habe er bloß darauf hinweisen wollen, daß es nach dem Kenntnisstand seines Hauses in der vergangenen Woche unzulässig gewesen sei, aus dem Video abzuleiten, es habe in Chemnitz Hetzjagden gegeben.

Die JF spürt eine Zeugin der Szene auf der Videosequenz auf. Madeleine F. gibt an, das Video von der Bahnhofsstraße sei echt. Dessen Kontext wirft ein anderes Licht auf das Geschehen: Die Migranten seien Teil einer Gruppe Linksradikaler gewesen und hätten die Rechten durch Parolenrufen absichtlich provoziert. Die Demonstranten gerieten in Wut und setzten zweien der Provokateure nach.