© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/18 / 14. September 2018

„Die Vorwürfe gegen mich sind absurd“
Ist es tatsächlich unmöglich, unsere Grenze zu schützen, wie die Kanzlerin 2015 behauptet hat? Der Politologe Martin Wagener belegt nun in einer Studie das Gegenteil. Seitdem steht der BND-Ausbilder an der Hochschule des Bundes unter Druck
Moritz Schwarz

Herr Professor Wagener, Ihr Buch „Deutschlands unsichere Grenze. Plädoyer für einen neuen Schutzwall“ sorgt für Aufregung. So fordern Sie etwa, wie zum Beispiel „Zeit“, ZDF oder Deutschlandfunk Ihnen vorwerfen, „Internierungslager“ für Flüchtlinge.  

Martin Wagener: Das ist absurd, hier schreibt einer vom anderen ab, ohne meine Aussagen im Buch zu überprüfen. Das Wort „Internierungslager“ taucht nirgendwo im Manuskript auf. Somit war sich selbst Zeit Online nicht zu schade, Fake News zu verbreiten.

„Fake News“? 

Wagener: Das muß man so einordnen. In einem Internierungslager werden politische Gegner eines autokratischen Systems „interniert“, nicht Flüchtlinge. Ich rege dagegen an, den Ansatz der Anker- und Transitzentren weiterzuentwickeln, sie also vor allem im Umfang zu erweitern. Wenn Medien wie Zeit Online dies nicht unterscheiden, verbreiten sie die Unwahrheit.

„BND-Ausbilder unter Rechtsextremismusverdacht“, meldeten etliche Medien, etwa Tagesschau.de, oder „BND prüft wegen Extremismusverdacht Maßnahmen gegen Ausbilder“. Offenbar gibt es also begründete Anhaltspunkte, sonst würde Ihr Dienstherr doch nicht gegen Sie ermitteln?

Wagener: Der Vorwurf des Rechtsextremismus ist ebenfalls absurd, ich habe dazu auf meine Internetseite eine ausführliche Erklärung gestellt. Angesichts der Vorwürfe ist es aber auch nachvollziehbar, daß sich der BND mit ihnen, die ursprünglich ein einzelner Online-Journalist angestoßen hat, befassen muß. In der Berichterstattung sehe ich derzeit vor allem die üblichen Reflexe, Verschlagwortung statt Analyse. Wichtig war mir, den Diskurs zu erweitern.

Was bedeuten die Vorwürfe für Sie persönlich?

Wagener: Ziel der Kampagne ist natürlich, mich und meine Forschungsergebnisse zu diskreditieren. Das wird grandios scheitern. Kritische Menschen lassen sich immer weniger von solchen Kampagnen übertölpeln. Zugleich bin ich sehr dankbar für die überaus positiven Rückmeldungen aus der Bevölkerung, von Kollegen und Verwandten. Und der Norddeutsche ist ja sturmfest und erdverwachsen. 

Die Kanzlerin hat 2015 erklärt: „Es liegt nicht in unserer Macht, wie viele (Menschen) nach Deutschland kommen“. Das Ergebnis Ihrer Studie scheint diese Behauptung nun zu widerlegen. 

Wagener: Eindeutig ja. Die Aussage der Kanzlerin verkürzt die Möglichkeiten der Regierung erheblich. Viele Staaten schützen sich heute durch Grenzanlagen, etwa Ungarn, Spanien, Israel oder Saudi-Arabien. Wie kann man auf den Gedanken kommen, daß das reiche und technisch bestens ausgestattete Deutschland dazu nicht in der Lage sein soll?

Welche von Ihnen ermittelten Fakten belegen, daß die Kanzlerin sich irrt?  

Wagener: In meiner Untersuchung bin ich auf siebzig gegenwärtig existierende mehr oder weniger stark ausgebaute Grenzanlagen weltweit gestoßen, Tendenz deutlich steigend. Und meine Studie hat dazu sämtliche bilateralen Grenzen überprüft. Dies ist das zentrale Argument: Staaten können sich mit Sperrsystemen schützen, und sie tun es auch.

Sie fordern in Ihrem Buch eine „postmoderne Grenzanlage“. Was ist das?

Wagener: Die klassische Grenzanlage war gegen die Invasion fremder Heere gerichtet. In Europa dominiert derzeit ein modernes Grenzverständnis, das weitgehend auf Binnenkontrollen innerhalb der EU verzichtet. Eine postmoderne Grenzanlage setzt ganz anders an: Sie ist nicht gegen staatliche Streitkräfte gerichtet, sondern gegen transnationale, kriminelle Akteure und die illegale Einreise von Migranten. Große Grenzübergangsstellen ermöglichen Bewegungsfreiheit auf dem Kontinent – wie bisher, nur eben kontrolliert.

Wie genau soll das funktionieren? 

Wagener: Mein Vorschlag setzt voraus, ausgetretene Analysepfade zu verlassen und bereit zu sein, über das Wesen von Grenzen neu nachzudenken. Eine Grenzschließung wäre durch den Bau eines Befestigungssystems aus Zäunen, Mauern und Stacheldraht jederzeit möglich. Konkret sähe ein typischer Grenzabschnitt nach meinem Vorschlag im Kern so aus: Vor der Befestigungsanlage gibt es einen Patrouille-Streifen. Dem schließt sich das erste Sperrelement an, ein vier Meter hoher blickdurchlässiger Sicherheitszaun. Er ließe sich mit Stacheldraht, Bewegungssensoren und Anti-Sprungvorrichtungen bewehren. Im Mittelstreifen gibt es vor allem Hindernisse, die ein schnelles Durchschreiten erschweren sollen, etwa Stolperdrahtvorrichtungen. Am Ende steht eine vier Meter hohe Betonwand. Je tiefer dieses System gestaffelt ist, desto weniger Grenzschützer werden benötigt. Im Bereich der Überwachungstechnologie – Stichwort: Smart fence – gibt es weitere Möglichkeiten wie den „RoboGuard“, um Personalkosten zu sparen. 

Es geht also tatsächlich darum, die komplette Landgrenze zu befestigen?

Wagener: Ja, große Grenzübergangsstellen ermöglichen dann die Ein- und Ausreise von Grenzpendlern, Touristen, Studenten oder Lastkraftwagen für den Warentransport. Nur so wird der Staat auch tatsächlich in Erfahrung bringen, wer sich in Deutschland befindet. Die einmaligen Kosten für den Bau der Grenzanlage dürften bei bis zu zwanzig Milliarden Euro liegen, den jährlichen Aufwand für etwa 90.000 Grenzschützer – zusätzlich zur bisherigen Bundespolizei – schätze ich auf 9,3 Milliarden Euro. Zum Vergleich: Die asylbedingten Belastungen des Bundeshaushalts sollen zwischen 2016 und 2021 bei 71,31 Milliarden Euro liegen – ohne Kosten für die Fluchtursachenbekämpfung.

Polizeigewerkschaftler wenden allerdings ein, die Abriegelung sei eben nicht möglich – „auch nicht mit noch so viel Personal“. 

Wagener: Vermutlich haben die Vertreter der Polizei an rudimentäre, einstufige  Anlagen gedacht. Deren Abhaltewerte sind natürlich gering, wie etwa an der US-Grenze zu Mexiko zu beobachten ist.

Aber in den spanischen Afrika-Exklaven sehen wir doch, daß auch gestaffelte Zäune immer wieder überwunden werden. 

Wagener: Das ist ein Sonderfall. Die Einheiten der Guardia Civil sind schlicht zu schwach aufgestellt, um die Anlage zu überwachen. Übrigens: Die Probleme in Ceuta und Melilla ließen sich schnell beheben. Die EU und Spanien müßten schlicht das Recht ändern und erklären, daß sich über die beiden Exklaven europäisches Gebiet nicht erreichen läßt.

Wieso wird dann immer wieder erklärt, daß eine sichere Grenze nicht möglich sei?

Wagener: Das hängt wohl mit unserer Geschichte zusammen. Begriffe wie „Grenzanlage“, „Mauer“ oder „Schutzwall“ wecken negative Assoziationen, die jede weitere Analyse blockieren. Die Ablehnung meiner Vorschläge, vor allem von linksliberalen Journalisten und Politikern, ist weniger argumentativ als vielmehr emotional begründet. Die meisten Kritiker haben das Buch nicht gelesen, Klappentext und Umschlag reichen für ihr Urteil aus.

Allerdings erhöhen effektive Sperranlagen natürlich die Unfallgefahr, wenn versucht wird, sie zu überwinden. Ist es nicht unethisch, ja geradezu „verboten“ – denken wir ans Menschenwürdegebot des Grundgesetzes –, solche Anlagen zu errichten? Man stellt ja quasi Todesfallen auf.

Wagener: Eine „Todesfalle“ hat zum Ziel, jemanden anzulocken und in eine bedrohliche Lage zu bringen. Das ist nicht die Aufgabe einer Grenzanlage. Wer diese zu überklettern versucht, bricht nicht nur das Gesetz, sondern er handelt auch auf eigene Verantwortung. Ich setze mich daher für eine Umkehr der Verantwortungslogik ein.

Auch wenn Grenzschutz möglich ist, „das Errichten von Mauern wird das Problem nicht lösen“, so die Kanzlerin. 

Wagener: Zum Teil stimmt das. Eine Grenzanlage kann immer nur ein Baustein einer Sicherheitsstrategie sein. Deshalb aber zu sagen, man könne dann auch gleich auf dieses Projekt verzichten, wird der Sache nicht gerecht. Wenn Migranten wissen, daß die illegale Einreise nach Deutschland nicht mehr so einfach ist wie heute, werden sie sich andere Zielländer suchen.

Aber wären wir mit so einer Grenzanlage moralisch nicht auf dem Niveau der DDR?

Wagener: Den Vorwurf kenne ich, aber er ist unsinnig. Die DDR-Grenzanlage hat nach innen gewirkt und die Bürger des SED-Regimes de facto eingesperrt. Mein Vorschlag wirkt nach außen. Ich schlage ja eine „atmende“ Grenzanlage vor, kein Gefängnis. 

Allerdings würde ein „Grenzen dicht“ zu langen Staus an den Übergängen führen und den Waren- und Personenverkehr in der EU stark einschränken. Experten warnen vor enormen ökonomischen Schäden. Wäre der Preis für eine funktionierende Grenze also nicht einfach zu hoch?

Wagener: Sie sehen, wie durch solche Ängste Diskurslinien vorgezeichnet werden. In der Praxis käme es lediglich darauf an, dort, wo es notwendig ist, sehr große Grenzübergangsstellen mit hinreichend Grenztruppen für Kontrollaufgaben bereitzustellen. So kann die schnelle Abfertigung Einreiseberechtigter gewährleistet werden. Der genaue Bedarf ließe sich allerdings erst durch Erprobungen ermitteln. Für den einzelnen Bürger würde sich außer ein wenig Wartezeit wenig ändern. Im Gegenzug wäre das Land deutlich sicherer als zuvor.

Eine Folge könnte allerdings ein Menschenstau samt humanitärer Notlage vor der Grenze sein, wie „Flüchtlingsorganisationen“ nicht zu Unrecht einwenden.   

Wagener: Im Gegenteil, denn es ist die offene Grenze, die im Rahmen der Migrationsproblematik der zentrale „Pull“-Faktor ist. Spricht sich herum, daß wir eine tief gestaffelte Befestigungsanlage bauen, werden sich die meisten Migranten nicht mehr auf den Weg Richtung Bundesrepublik machen. Österreich würde dann seine Grenzen ebenfalls schließen. Und schon würde der Außenschutz der EU-Grenzen im Zuge weiterer Domino-Effekte irgendwann tatsächlich funktionieren. Ist es nicht genau das, was viele Regierungen derzeit wollen?

Sie schreiben, daß es sich genau umgekehrt verhält, als die Kanzlerin behauptet: Grenzsicherung wirkt, die „Beseitigung der Fluchtursachen“ dagegen nicht.

Wagener: Die Schere hat sich zu weit geöffnet: Auf der einen Seite sind die begrenzten Fähigkeiten der internationalen Akteure, Ordnung und Stabilität in Afrika zu schaffen – also vor allem funktionierende Staatlichkeit. Auf der anderen Seite nimmt der demographische Druck zu. In Afrika wächst die Bevölkerung etwa alle zwölf Tage um eine Million Menschen. Die Schaffung angemessener Lebensperspektiven ist bei solchen Größenordnungen mit Entwicklungshilfe nicht zu leisten. Also muß über neue Wege zum Schutz Deutschlands nachgedacht werden – womit wir unweigerlich beim Grenzschutz landen. Da sich die EU in dieser Frage als handlungsunfähig erwiesen hat, muß neu, sprich national, angesetzt werden. 

Würden Sie also die Argumente der Bundeskanzlerin als populistisch einordnen?

Wagener: Drücken wir es so aus: Die Bundeskanzlerin meint es sicherlich gut. Aber ihre Regierung steckt hier in einer analytischen Sackgasse. Als Wissenschaftler kann ich mir Zahlen zur fragilen Staatlichkeit oder zum Umfang autoritärer Regime in Afrika anschauen. Für mich folgt daraus, daß Entwicklungshilfe Afrika bislang kaum geholfen hat. Stellen Sie sich vor, die Bundeskanzlerin würde eine solche Position vertreten. Der Aufschrei wäre enorm.

Wie halten Sie es eigentlich mit der Moral? Ihr Vorschlag hat ja durchaus eine egoistische Komponente.

Wagener: Das sehe ich anders. Bundesentwicklungsminister Gerd Müller sagte jüngst, daß es 15 Cent am Tag koste, ein Menschenleben im Jemen zu retten – aber 50 bis 100 Euro am Tag, um einen Flüchtling in Deutschland zu versorgen. In meinem Buch schlage ich deshalb vor, den deutschen Beitrag für den Etat des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen zu verzehnfachen – auf umgerechnet 4,2 Milliarden Euro im Jahr. So könnte deutlich mehr Menschen geholfen werden, als dies derzeit der Fall ist. Die Aufwendungen zur Unterbringung der Flüchtlinge in Deutschland liegen aktuell bei circa 14 Milliarden Euro im Jahr. Es ist doch nicht sinnvoll, das Leid der Welt in die Bundesrepublik zu holen, um es dort zu kurieren. Ich bin also moralisch geleitet – aber eben als Verantwortungsethiker, nicht als Gesinnungsethiker.

Das Ganze würde einer Mehrheit dafür im Volk bedürfen. Ist die vorhanden? 

Wagener: Derzeit sicher nicht. Aber der Druck auf unsere Grenzen wird zunehmen. Und dadurch können sich auch Positionierungen ändern. Bedauerlich ist, daß für einen politischen Schwenk oft Realitätsschocks notwendig sind, um neue Mehrheiten zu generieren. 

Warum erscheint Ihr Buch eigentlich bei Amazon und nicht in einem Verlag? 

Wagener: In einem Wissenschaftsverlag wäre es zu teuer geworden. Sachbuchverlage mögen die vielen Fußnoten nicht. Ich hatte allerdings auch Absagen, die damit begründet worden sind, daß das Thema zu heikel sei. In einem Fall lehnte ein deutscher Verlag ab, weil er die Inhalte des Buches seinen zahlreichen Mitarbeitern mit „Migrationshintergrund“ nicht zumuten wollte. Im Gespräch wurde übrigens ganz offen zugegeben, das Manuskript nur sehr selektiv beziehungsweise gar nicht gelesen zu haben.

Welcher Verlag war das? 

Wagener: Ich bin kein Denunziant.

Aber ein wirksamer Grenzschutz ist doch ebenso im Interesse der „Mitarbeiter mit Migrationshintergrund“?

Wagener: Das sehe ich auch so. Ich habe zu sehr vielen Migranten Kontakt, und über die unkontrollierte Masseneinwanderung seit 2015 schütteln vor allem die besonders gut Integrierten den Kopf.

Was passiert, wenn eine solche „postmoderne Grenzanlage“ nicht kommt?

Wagener: Der Ausbau multikultureller Parallelgesellschaften mit eigenen Werten und Regeln wird zunehmen – langfristig mit unabsehbaren Folgen für die freiheitlich-demokratische Grundordnung. Auch die Kriminalität wird steigen. Dies alles wird zu mehr innenpolitischen Bruchlinien führen. Die politische Polarisierung der Gesellschaft, die sich seit 2015 verschärft hat, wird sich zuspitzen. Das kann zu System­erschütterungen führen: Wenn Politik nicht mehr integrativ wirkt, sondern zwei verfeindete Lager schafft, die nur noch in ihren eigenen Echo-Kammern leben, kann dies die Akzeptanz der Demokratie in der Bevölkerung schwächen. Eine postmoderne Grenzanlage könnte deshalb erheblich zur Beruhigung der Lage beitragen.






Prof. Dr. Martin Wagener, lehrt seit 2012 Internationale Politik mit dem Schwerpunkt Sicherheitspolitik an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Brühl und Haar bei München, zuvor war er Juniorprofessor an der Universität Trier. Er veröffentlichte etliche Fach- und Gastbeiträge unter anderem in der NZZ, FAZ, Süddeutschen Zeitung und Cicero. Ende August erschien seine Studie „Deutschlands unsichere Grenze. Plädoyer für einen neuen Schutzwall“ als Eigenpublikation über CreateSpace Independent Publishing bei Amazon. Geboren wurde der Politikwissenschaftler 1970 in Lüneburg.

Foto: Sperrzaun: „Eine Grenzschließung wäre durch den Bau einer ’postmodernen Grenzanlage’ , wie ich sie vorschlage, jederzeit möglich (...) offenbar ist aber erst ein Realitätsschock nötig“

 

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