© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/18 / 07. September 2018

Wo das Ökosystem Tumor vermessen wird
Züricher Wissenschaftler machen rasante Fortschritte in der Krebsforschung / 80 Prozent Heilungschancen?
Lars Köster

Der Immunologe Burkhard Becher wagt ein Versprechen: „In zehn bis 15 Jahren werden wir Krebs nicht mehr als den Horror empfinden, der er heute ist.“ Für eine solche Prognose braucht ein Wissenschaftler gute Gründe. Der 49jährige Kölner glaubt darüber zu verfügen. Er ist seit zehn Jahren Professor an der Uni Zürich und dort einer von fünf Grundlagenforschern und Klinikern, die das UZH Magazin (2/18) in einer Reportage vorstellt.

Sie zeigt die „gewaltigen Fortschritte“ im Kampf gegen den Krebs, die dank der Präzisionsmedizin gemacht worden sind. Als Initialzündung hat dafür die seit 2003 abgeschlossene Enträtselung des menschlichen Genoms gewirkt. Sie hat die Aufschlüsselung eines individuellen genetischen Profils ermöglicht, das aus drei Milliarden Einheiten besteht und nun in relativ kurzer Zeit und vergleichsweise kostengünstig zu erstellen ist.

Zusammenhänge zwischen Gendefekten und Krankheit

Welcher diagnostische und therapeutische Gewinn sich aus den exakt auf den Patienten abgestimmten Methoden und Technologien ziehen läßt, vermag Anita Rauch, Direktorin des Instituts für Medizinische Genetik, anhand einer den „rasanten Wissenszuwachs“ in der Krebsforschung dokumentierenden Zahl zu erklären. Kannte man Anfang der 1990er bei Kindern nur für eine Handvoll genetisch bedingter Krankheiten die molekulare Ursache, sind es heute rund 3.000. Auch für Erwachsenenleiden werden immer mehr Zusammenhänge zwischen Gendefekten und Krankheiten entdeckt. Das Wissen darüber, berichtet Rauch, welche Genmutation welches Krankheitsbild macht, sei „exponentiell gewachsen“. So verbesserten sich die Voraussetzungen für präzise Diagnosen und maßgeschneiderte Behandlungen.

Vor allem deswegen, weil medizinische Genetik mit der Vorstellung eines einheitlichen Tumors aufräume. Tatsächlich bestehen Krebsgeschwüre aus verschiedenen Teilen, in denen sich entartete Zellen mit unterschiedlichen Mutationen ansammeln und auch Veränderungen des Gewebes festzustellen sind. Diese Eigenschaften nehmen Forscher erstmals so detailliert unter die Lupe, daß sie einzelne Zellen und deren Funktion bei der Entstehung von Krebs untersuchen. In zehn Jahren, so Rauch, dürften sich auch Kliniker ein differenziertes Bild vom Tumor und seinen Ursachen machen, dürften sagen können, wie hoch die Wahrscheinlichkeit sei, daß er Metastasen bildet und mit welcher individuell angepaßten Therapie er erfolgreich zu bekämpfen sei.

Mit Hilfe solcher genetischer Fingerabdrücke, in ihrem Fall von Blutkrebszellen, kann die am Onkologischen Zentrum des UHZ-Kinderspitals tätige Oberärztin Nicole Bodmer Kindern mit Leukämie heute schon eine passende Therapie verordnen. Auch sie weiß die enormen Fortschritte der Präzisionsmedizin zu loben: Noch 1990 führte der häufigste Blutkrebs, die Akute Lymphatische Leukämie (ALL), innerhalb weniger Wochen zum Tod. Heute überleben 80 bis 90 Prozent der betroffenen Kinder und Jugendlichen.

Diese lebensrettende Innovation fand nicht in der Pharmakologie statt. Denn das Gros der Patienten, so erläutert Bodmer, werde mit Medikamenten geheilt, die bereits in den 1970ern verfügbar waren. Es sei also einmal mehr die Genetik gewesen, die die Therapie auf ein höheres Niveau hob, weil mit ihren neuen Methoden Subtypen der Leukämie viel präziser identifiziert würden als früher. Innerhalb einer Woche nach der Erstuntersuchung liege der genetische Fingerabdruck der Blutkrebszellen vor, der eine rasche Reduktion jener entarteten weißen Blutkörperchen ermögliche, die Krankheitssymptome wie Fieber, Nasenbluten und Knochenschmerzen auslösen.

Während Bodmer bei bis zu 80 Prozent ihrer Patienten die Heilungschancen als günstig beurteilt, haben die übrigen 20 Prozent, die ein schlechtes genetisches Profil der Erkrankung aufweisen oder ungenügend auf die Chemotherapie ansprechen, leider „weniger Glück“. Sie benötigen eine intensivere Chemotherapie und mitunter eine Stammzellentransplantation. Bei diesen Patienten reduziert sich die Überlebenschance drastisch auf 50 Prozent.

„Die potenteste Waffe gegen den Krebs“

Große Hoffnungen setzen Bodmer und der am Universitätsspital tätige Hämatologe Markus Manz daher auf die Immuntherapie mit dem Antikörper Blinatumomab. Dieser Antikörper stellt eine Verbindung her zwischen den körpereigenen Immunzellen (T-Zellen) und den Tumorzellen. Mit seiner Hilfe „erkennen“ T-Zellen Tumorzellen, docken an sie an, überschütten sie mit einem „Giftcocktail“ und vernichten sie.

„Wenn gar nichts mehr hilft“, dann setzen Bodmer und Manz auf eine neue Wunderwaffe der Immuntherapie, die CAR-T-Zelltherapie. Hier werden T-Zellen aus dem Blut des Patienten entnommen und gentechnisch so verändert, daß sie sogenannte „chimärische Antigenrezeptoren“ auf der Oberfläche bilden und ohne die katalytische Hilfe von Antikörpern Tumorzellen identifizieren und zerstören. Diese „potenteste Waffe gegen den Krebs“, wie Manz schwärmt, ist allerdings noch astronomisch teuer. 500.000 Franken kostet „Kymriah“, das von Novartis produzierte Medikament für die CAR-T-Therapie.

„Im Krebs“ tastet sich auch der Quantitativbiologe Bernd Bodenmiller vor, der sich auf die bildgebende Massenzytometrie spezialisiert hat, die das Zusammenspiel unterschiedlicher Zellen im kranken Gewebe aufzuklären versucht. Interaktionen zwischen Zellen geben Aufschluß darüber, wie weit der Tumor entwickelt ist und wie aggressiv er sich verhält. Aus dem von Bodenmiller entworfenen Gesamtbild des „Ökosystems“ Tumor lassen sich nicht nur Behandlungsmethoden ableiten, sondern auch etwas schaurig anmutende Klassifizierungen etwa von Brustkrebspatientinnen und ihrer Überlebenschancen vornehmen.

Zum Schluß präsentiert der UZH-Report den zukunftsfrohen Burkhard Becher und verrät, warum er so zuversichtlich ist, den „Horror“ Krebs bannen zu können. Der Immunologe setzt im Kampf mit dieser Geißel der Menschheit auf Künstliche Intelligenz (KI). Wenn eine immer genauere, präzisionsmedizinisch vertiefte Kenntnis der biologischen Mechanismen der Krebsentstehung Therapieerfolge garantiert, dann gelte es auf die Bioinformatik zurückzugreifen.

Deren Algorithmen können in den riesigen Datenmengen, die aus jeder einzelnen Zelle von Patienten-Blutproben mittels ultramoderner zytometrischer Verfahren gewonnen werden, nach molekularen Mustern fahnden und spezifische Blutprofile erstellen, die auf Therapieerfolge hinweisen. Die Heilungsrate von Schwarzem Hautkrebs sei aufgrund dieser digital perfektionierten molekularen Mustererkennung geradezu in die Höhe geschnellt und liege heute bei 40 bis 50 Prozent. Der Schlüssel für die Medizin liege folglich hier, in der Verschmelzung neuer zellulärer und molekularer Informationen mit der auf Algorithmen gestützten Datenanalyse.


Beitrag „Im Krebs. Was die Präzisionsmedizin kann“, im UZH Magazin (2/18):

 www.magazin.uzh.ch/

 www.immunology.uzh.ch

 www.medgen.uzh.ch

 www.cancercenter.usz.ch