© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/18 / 07. September 2018

Zum Nivellierungsprogramm des Kulturmarxismus
Es lebe der Unterschied!
Gerd Habermann

Karl Marx – was bleibt? Theoretisch beinahe nichts. Das Gebäude des sogenannten wissenschaftlichen Sozialismus ist von Generationen von „bürgerlichen“ Ökonomen, Philosophen, Soziologen und Historikern gründlich zerpflückt worden. Von Wissenschaft konnte von Anfang an keine Rede sein. Dieses Gedankengebäude birgt interessante Hypothesen, kühne Geschichtsmetaphysik, wortgewaltige Polemik, schließlich apokalyptische Prophetie, aber: keine Wissenschaft.

So gibt es, wie die Realität zeigt, keine historischen „Bewegungsgesetze des Kapitalismus“ hin zu seiner Selbstzerstörung und zum Übergang in einen technisierten Hordenkommunismus ohne Privatheit, Eigentumsrechte, Arbeitsteilung, Familie, Staat und Religion, aber im materiellen Überfluß einer großen Allmende. Es gibt auch keine historischen Gesetze, sondern nur handelnde Individuen. Abstrakte Kollektivbegriffe oder Idealtypen können nicht handeln! Der „historische Materialismus“ ist allenfalls eine anregende Konstruktion von Idealtypen, deren „gesetzmäßige“ Abfolge schon für Europa fragwürdig ist, von den angeblich „im letzten“ verursachenden Faktoren des Wandels wie den mystischen „Produktivkräften“ abgesehen. Die objektive Wertlehre (in sie investierte Arbeit begründet den Wert der Güter) war schon zu Marxens Lebzeiten durch die subjektive Wertlehre der „Österreichischen Schule“ (Böhm-Bawerk) widerlegt: Seltenheit und Nutzen begründen den Wert der Güter. Beruht zum Beispiel der Wert des Goldes (oder sonst eines Rohstoffes) auf der Arbeit, die in seine Förderung gesteckt wurde?

Die Verelendungstheorie wurde auch von Marxisten selber bald aufgegeben – sie ist im Zeitalter des Massenwohlstands und der Überernährung als Problem einfach lächerlich. Kaum besser erging es dem Konzentrationsgesetz – nichts ist so oft totgesagt worden wie der wirtschaftliche Mittelstand, und nichts ist bis heute so vital – oder der Krisentheorie. Gewiß gibt es Krisen – aber nicht als immanente Folge des Kapitalismus und seiner „Überproduktion“, sondern als Folge staatlicher Geld- und Zinsmanipulationen (wir haben bekanntlich ein staatliches Papiergeldmonopol: „Geldsozialismus“).

Besonders grotesk war die Mehrwertlehre, welche die zentralen Unternehmerfunktionen (Erkenntnis und professionelle Überwindung von Knappheiten unter Ungewißheit, Zeitrestriktion und im „Wettbewerb als Entdeckungsverfahren“) ignorierte. Von einigen allgemeinen Redensarten abgesehen, fehlt bei Marx eine Theorie der Planwirtschaft. Wiederum die Österreichische Schule der Ökonomie (von Mises, von Hayek), zeigte dann, warum eine naturale Planwirtschaft in komplexen Gesellschaften nicht funktionieren kann: die Unmöglichkeit einer Kostenkalkulation ohne Knappheitspreise sowie unüberwindbare Informationsdefizite bleiben bestehen.

Wenn auch die wissenschaftliche Widerlegung des Marxismus feststeht, die letzten Triebkräfte hinter den fragwürdigen Idealen bleiben bestehen: Ressentiment und Neid. So das Streben nach einer Gleichheit, welche sich nur mit Gewalt realisieren läßt.

Wie soll eine moderne Gesellschaft ohne den Anreiz des Eigeninteresses, des Sondereigentums funktionieren? Was ist an Marxens Lehre „humanistisch“, wenn er Eigentum, individuelle Privatheit, Familie und Religion vernichten will, eine „Diktatur des Proletariats“ beziehungsweise von dessen intellektueller Avantgarde fordert? Schon das reine Überleben der Massen heute hängt von Arbeitsteilung und funktionierenden Märkten ab.

Die „Proletarier“ des 19. Jahrhunderts haben nur durch den „entfremdenden“ Kapitalismus überleben können, ja sie verdankten ihm ihre bloße physische Existenz. Und gerade dort gelangte der Marxismus vorübergehend (und nur mit Terror!) an die Macht, wo die Voraussetzungen nach der Theorie am wenigsten gegeben waren (in Rußland, in China), wohingegen er in den USA und England keine Chance hatte.

Überall, wo der Kapitalismus hinkam, überwand und überwindet er die Armut als Massenerscheinung, zuletzt sogar ironischerweise in China. Der Kapitalismus nimmt nicht, er gibt Arbeit und Brot, das er methodisch vermehrt, statt es nur – angeblich gerecht – zu verteilen. Wo der Marxismus zur Herrschaft gelangte, führte er zu zivilisatorischem Absturz und materieller Not.

Wer wird gleichwohl den Schriften Marx’ welthistorische Wirkung absprechen? Aber wenn historische Größe nur nach einer wertneutralen quantitativen Wirkung gemessen wird, dann sind auch die berühmten Ruinierer der Weltgeschichte „groß“, auch ein Hitler, Stalin oder Mao Tse-tung oder früher ein Dschingis Khan oder Timur. Freilich war Marx nur ein „Schreibtischtäter“, aber er hat einige Monster des 20. Jahrhunderts theoretisch munitioniert und zu ihren Untaten inspiriert. Ohne seine Doktrinen wäre Millionen von Menschen ein qualvoller Untergang im Gulag, durch Diskriminierung, Hunger oder direkten Mord erspart geblieben. Es kam zu frivolen weltgeschichtlichen Experimenten, deren sicheres Scheitern „bürgerliche“ Wissenschaftler gleich von Anfang an vorausgesagt haben, auch wenn sie dessen genauen Termin nicht angeben konnten.

Es gibt mit alldem keinen Grund, diesem Urvater des modernen Sozialismus außerhalb Nordkoreas oder Kubas meterhohe Denkmäler zu errichten wie im Mai in Trier, unter dem Beifall eines Mannes wie Jean-Claude Juncker und unter Mitorganisation der Kirche und der Stadt. Für solch ein Geschenk aus China sollte man sich nicht dankbar zeigen.

Interessant war am theoretischen Marxismus allenfalls die Fragestellung nach der Auswirkung der ökonomischen Verhältnisse auf die Gesamtkultur, die Abhängigkeit des politischen, religiösen, sozialen, künstlerischen „Überbaus“ von der „Basis“ und natürlich genauso umgekehrt. Marx hat die berühmten religionssoziologischen Studien Max Webers, welche umgekehrt den Einfluß der Religion auf die Wirtschaft zeigen, inspiriert. Es gibt in der Geschichte und Gesellschaft nur Multikausalität und Interdependenz, nicht deprimierende Monokausalität (nach der reduktionistischen Formel: „nichts anderes als“).

Gleichwohl dauern die Wirkungen marxistischen Denkens an, ja sie nehmen unter begrifflich etwas modifizierter Gestalt als „Kulturmarxismus“, um diesen nicht unglücklichen Ausdruck aufzunehmen, trotz des spektakulären Zusammenbruchs des großen sozialistischen Experiments wieder zu. Ignorante Literaten oder Politiker machen immer wieder dieselben, aussichtslosen Experimente, so derzeit in Venezuela, als „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“. Wie Robert Nef sagte: „Die Geschichte ist die beste Lehrmeisterin mit den schlechtesten Schülern“. Die jahrhundertelange Agitation gegen den „Kapitalismus“, gegen Unternehmerwirtschaft und Gewinne, Eigeninteresse („Egoismus“) und angeblich ungerechte Verteilung der Lebensgüter wirkt nach. Wenn auch die wissenschaftliche Widerlegung des Marxismus feststeht, die letzten Triebkräfte hinter seinen fragwürdigen Idealen bleiben bestehen: Ressentiment und Neid. So im besonderen das Streben nach einer Gleichheit, die über die liberale Regelgleichheit hinausgeht und nach einer faktischen Gleichheit strebt, welche sich nur mit Gewalt vordergründig realisieren läßt, indem sie die Schranken von spontaner Tradition, Freiheit und sogar Natur und Glück niederzureißen sucht.

Für Kulturmarxisten ist ein Kannibalenstamm im Urwald den klassischen Griechen keinesfalls unterlegen und der Asoziale unter der Brücke nicht nur zu tolerieren, sondern sozial gleichzuschätzen mit dem erfolgreichen Unternehmer oder Sportler.

Die traditionelle Verstaatlichung als Programm tritt heute zurück: Der Kulturmarxismus wendet sich der Zerstörung „bürgerlicher“ und evolutionär bewährter Institutionen zu, sucht über eine „kulturelle Hegemonie“ seiner Gleichheitsideale in Medien und Bildungswesen zwar langsam, aber um so sicherer an sein Ziel zu kommen. Dies war oder ist Linie Antonio Gramscis, der Frankfurter Schule („Kritische Theorie“) und französischer Soziologen wie Foucault und Derrida, des „Postmodernismus“ und der „Dekonstruktion“.

Es gibt für Kulturmarxisten keine „objektiven“ Wahrheiten, sondern nur perspektivische Standpunkte des Interesses, so etwa die Sozialwissenschaften als Produkte einer Gruppe alter weißer Männer, vielleicht auch die Naturwissenschaften nach dem Muster der „marxistischen Physik“. Es gibt keine Kultur oder Religion von irgendeiner Überlegenheit und kein Recht, die eigene zu verteidigen, die andere zu kritisieren oder minderzuschätzen – das wäre „Rassismus“ (ein vollständig entleerter Begriff), wovon es sexuelle, kulturelle, religiöse, politische Unterarten gibt. Kollektive Identitätsgefühle wie bei jeder Gruppenbildung „diskriminieren“ schuldhaft angeblich andere, die darin nicht inkludiert sind – die Opfergruppen. Die eigene Persönlichkeit ist ebenso ein soziales Konstrukt wie das Geschlecht – alle Identitäten werden dekonstruierend aufgelöst. Es darf keine Vorlieben, keine Grenzen geben. Die Sprache ist von wertbelasteten Ausdrücken und Bezeichnungen zu säubern („Politische Korrektheit“). Gruppenbezogene, vielleicht nur ästhetische Werturteile gelten als „Phobien“. An die Stelle der verbürgerlichten Proletarier als Heilsträger treten eine Reihe von Randgruppen – alle jene, die mit einem Handicap, einer Benachteiligung durch die Welt gehen: die Behinderten wie die sexuell Devianten, jede religiöse, politische, kulturelle, sexuelle Minorität, deren geringerer Status herrschenden Gruppen als moralische Schuld angerechnet wird. Es gilt Multikulturalismus, das heißt nicht kultureller Pluralismus im Wettbewerb, sondern die relativistische Gleichstellung aller Kulturen, der Geschlechter, Religionen. Ein Kannibalenstamm im Urwald ist den klassischen Griechen keinesfalls unterlegen, der Asoziale unter der Brücke ist nicht nur zu tolerieren, sondern sozial gleichzuschätzen mit dem erfolgreichen Unternehmer oder vielbewunderten Sportler.

Mit anderen Worten: Es darf keine Unterscheidungen („Diskriminierungen“) mehr geben, alle sind sozial gleich zu bewerten. Ein utopischer krasser Egalitarismus, der damit in einen kulturfeindlichen Nihilismus mündet. Jedes Streben nach Vorrang und Bewährung, aller anspornender Wettbewerb wird gelähmt, jede Hierarchie der Wertschätzungen beseitigt. Dies ist Ideal einer „anonymen Gesellschaft“, eines kollektivistischen Insektenstaates, in welchem alle Individualität beseitigt ist.

Und wozu das? Es soll damit die Harmonie der absolut Gleichen und „Gerechten“ und so auch der absolute Frieden erreicht werden. Nur diese sozialphilosophische Dürftigkeit steckt hinter der diffamierenden Polemik gegen alles, was den Unterschied, den Wettbewerb, das Herausragende, Schöne und Glückliche und den Vorrang verkörpert, die derzeit das soziale Klima nicht nur in Deutschland vergiftet. Vive la différence! 






Prof. Dr. Gerd Habermann, Jahrgang 1945, ist Wirtschaftsphilosoph, Hochschullehrer und freier Publizist. Seit 2003 lehrt er als Honorarprofessor an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Potsdam. Er ist Initiator und Mitgründer der Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft und der Friedrich-August von Hayek-Stiftung für eine freie Gesellschaft.

Foto: „Buntheit“, „Vielfalt“, „Toleranz“ als Mimikry einer kulturellen Kaputtmacherei: Der Marxismus ist leider nicht tot, doch die traditionelle Verstaatlichung tritt als Programm heute zurück. Als Kulturmarxismus zielt er auf Zerstörung bewährter Institutionen – und hüllt sich in ein scheinbar menschenfreundliches Gewand