© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/18 / 07. September 2018

„Über eine Million Stellen sind unbesetzt“
Arbeitsmarkt: Eine neue Studie widerspricht den Klagen über den riesigen Fachkräftemangel in Deutschland
Fabian Schmidt-Ahmad

Nachdem Horst Seehofer im Juli für seine angeblich harte Linie in der Asylpolitik medial als Prügelknabe der Nation ausgerufen wurde, sind nun sanftere Töne zu hören. Grund ist der Entwurf für ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz, auf den sich der Bundesinnenminister mit den Kabinettskollegen Peter Altmaier (CDU) und Hubertus Heil (SPD) verständigte.

Die Eckpunkte sind brisant. Unter anderem wird gefordert, die Vorrangprüfung für deutsche und EU-Arbeitnehmer abzuschaffen. Bisher mußten Stellen zuerst mit Einheimischen besetzt werden, bevor Kräfte von außerhalb der EU (ausgenommen bestimmte Mangelberufe) eingestellt werden konnten. „Wir werden das Fachkräftekonzept der Bundesregierung neu ausrichten und auf drei Bereiche konzentrieren: die inländischen, die europäischen und die internationalen Fachkräftepotentiale“, zitiert das Handelsblatt das Papier.

Als weiteren Punkt sieht der Entwurf die legale Einreise nach Deutschland auch ohne Stellenzusage vor. Derzeit ist nur Hochschulabsolventen ein sechsmonatiger Aufenthalt zur Arbeitssuche gestattet, wenn ihr Lebensunterhalt gesichert ist. Ausdrücklich richtet sich das Papier an Arbeitssuchende aus aller Welt. Dabei sollen „die Qualifikation, das Alter, Sprachkenntnisse, der Nachweis eines konkreten Arbeitsplatzangebots und die Sicherung des Lebensunterhalts in angemessener Weise“ berücksichtigt werden.

„Endlich“, freute sich Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer in der Welt, das sei „ein ganz wichtiger Schritt“, denn „mehr als eine Million Stellen sind unbesetzt“. Für Eric Schweitzer, Präsident des Unternehmerverbands DIHK, sendet die Bundesregierung „mit ihren Eckpunkten zur Fachkräftezuwanderung ein positives Signal an die Betriebe“. Sogar 1,6 Millionen Zuwanderer sollen dem deutschen Arbeitsmarkt fehlen, schätzt der Chef der Berliner Alba Group laut Zeit. „Angesichts des sich täglich verschärfenden Fachkräftemangels, massenhaft unbesetzter Lehrstellen und der Herausforderungen durch den demographischen Wandel braucht Deutschland dringend qualifizierte und gesteuerte Zuwanderung“, sekundiert Michael Theurer, wirtschaftspolitischer Sprecher der FDP im Bundestag – und faßt damit zusammen, was vom Kipping-Flügel der Linken  über die SPD und die Jamaika-Parteien bis zu den Wirtschaftsliberalen der AfD inzwischen wohl politischer Konsens ist.

Aber stimmt das wirklich? Denn zu den Mangelberufen zählen nicht nur Altenpfleger, Ärzte, Naturwissenschaftler oder Ingenieure, sondern auch Leiharbeiter, Putzfrauen, Kellner, Köche oder Handwerker. Lassen sich unter den 5,6 Millionen Arbeitslosen und Unterbeschäftigten in Deutschland oder unter den 17 Millionen EU-Arbeitslosen wirklich keine geeigneten Bewerber finden?

Mehr Ausbildung statt Zuwanderung

Eine aktuelle Studie des gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) bezweifelt die Klagen der Konzernlobbyisten – und argumentiert streng marktwirtschaftlich: Bei einem wirklichen Fachkräftemangel müßte in den betroffenen Berufen ein deutlicher Anstieg der Bruttolöhne stattfinden. Tatsächlich verharren diese aber seit Jahren auf gleichem Niveau (siehe Grafik).

Die vom DIHK beklagte Fachkräftelücke solle „die Arbeitskosten niedrig halten“. Selbst bei Hochqualifizierten gebe es kaum Lohnzuwachs: „Ursächlich ist also kein Mangel an Fachkräften, sondern an Zahlungsbereitschaft. Eine Einwanderungspolitik, die den deutschen Niedriglohnsektor mit niedrig entlohntem Personal versorgen soll, ist ökonomisch schädlich und untergräbt die gesellschaftliche Akzeptanz einer in den kommenden Jahrzehnten durchaus sinnvollen Einwanderung von Fachkräften.“

Und mit der EU-weiten „Blue Card“ gibt es seit 2012 die rechtliche Möglichkeit für die Einwanderung Hochqualifizierter aus Nicht-EU-Ländern. Voriges Jahr verteilten deutsche Behörden rund 22.000 der Arbeitskarten. 2016 lag ihre Zahl noch bei 17.000, davor bei 14.000. Rund ein Viertel der Antragsteller kommt aus Indien, zehn Prozent aus China. Weitere Herkunftsländer sind Rußland (6,4 Prozent), die Türkei (4,7 Prozent) und die Ukraine (4,1 Prozent).

Blue-Card-Beschäftigte müssen allerdings mindestens 52.000 Euro (Mangelberufe: 40.560 Euro) jährlich verdienen. Seehofers Einwanderungsgesetz dürfte so vor allem den Konkurrenzdruck auf dem Angelernten-Arbeitsmarkt erhöhen. Und: 2016 sind 281.411 Deutsche ausgewandert. Das Gros ging in die Schweiz (17.650), die USA (12.781) und nach Österreich (10.283) – wo Fachkräfte mehr verdienen, die Sicherheitslage besser, die Steuerbelastung niedriger oder die soziale Absicherung höher ist.

Nach der Ärztestatistik 2017 haben voriges Jahr 1.965 Ärzte Deutschland verlassen – 59,3 Prozent davon hatten einen deutschen Paß. Die beliebtesten Auswanderungsländer waren ebenfalls die Schweiz (641), Österreich (268) und die USA (84). Durch die Zuwanderung aus EU- und Drittländern stieg die Ärztezahl in Deutschland aber um 4.088 auf insgesamt 50.809. Für Frank Ulrich Montgomery, Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), ist der Ärztemangel politisch bedingt: „Wir bilden zuwenig Ärzte aus.“ Zuwanderung aus dem Ausland sei daher die falsche Lösung. 

Die zugewanderten Kollegen fehlten zudem in ihren Herkunftsländern. Auch die Qualifikation sei teilweise fraglich. „Patienten haben einen Anspruch auf eine qualitativ hochwertige Behandlung. Deshalb muß auch bei zugewanderten Medizinern aus dem Ausland zweifelsfrei geklärt werden, daß sie über die gleichen Fähigkeiten und Kenntnisse verfügen wie ihre in Deutschland ausgebildeten Kollegen“, erklärte Montgomery.

WSI-Report 41/18:  boeckler.de