© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/18 / 07. September 2018

Der Getriebene
Michael Kretschmer: Eingekeilt zwischen „Sachsen-Bashing“ und AfD-Erfolgen
Paul Leonhard

Michael Kretschmer regiert Sachsen aus dem Dienstwagen heraus. Unentwegt absolviert der Ministerpräsident einen Termin nach dem anderen, ist heute in Zwickau und Plauen, morgen in Radebeul und übermorgen in Bautzen. Diesen Arbeitsstil hat er sich als Generalsekretär der Sachsen-Union angewöhnt.

Kretschmer hat das Privileg, daß er nicht viel regieren muß. Er hat ein paar ihm wichtige Dinge angeschoben, wie die Anbindung des ländlichen Raumes an das Internet. Der Verwaltungsapparat ist bestens eingespielt. Die Regierungsmannschaft hat der 43jährige, der auch CDU-Landeschef ist – soweit es die Union betrifft – mit ihm gewogenen oder ihm ungefährlichen Politikern besetzt. Der kleine Koalitionspartner ist angesichts des desolaten Zustands der SPD vollends mit sich selbst beschäftigt, auch wenn er ab und an verbal auskeilt. Aber auch um die CDU ist es nicht gut bestellt. Es deutet vieles darauf hin, daß sie die für September 2019 anstehenden Landtagswahlen nicht gewinnen wird.

Diese sind der Hauptgrund für Kretschmers hektische Reisen durchs Land. Er ist auf Stimmenfang. Er will den Negativtrend seiner Partei stoppen, will verhindern, daß die Alternative für Deutschland stärkste Kraft wird. Aktuelle Umfragen sehen sie bei 25 Prozent. Wären jetzt Wahlen, würde die CDU viele ihrer seit 1990 als sicher geltenden Wahlkreise verlieren. Nach einer Prognose Berliner Meinungsforscher würde die AfD 26 der 60 Wahlkreise für sich gewinnen, die Linkspartei vier. Mit lediglich 30 statt wie gewohnt 59 direkt gewählten Abgeordneten in den Landtag einzuziehen wäre für die bis 2004 mit absoluter Mehrheit regierende Union ein herber Schlag.

Wie zum Trotz hat sich Kretschmer im Wahlkreis Görlitz II als Direktkandidat aufstellen lassen. In seiner Heimatstadt an der Neiße will er die Niederlage wettmachen, die er bei den Bundestagswahlen im vergangenen September einstecken mußte, als er sein Mandat knapp an den AfD-Politikneuling Tino Chrupalla verlor. Was aber, wenn es Kretschmer zwar gelingt, landesweit das Ruder herumzureißen, er aber am Direktmandat scheitert? Denn warum sollten die Görlitzer einen Mann wählen, der gar nicht als Abgeordneter ihre Interessen vertreten möchte, sondern als Ministerpräsident allen gleich verpflichtet wäre?

Sachsen fühlen sich als Bürger zweiter Klasse

Bundeskanzlerin Angela Merkel, mit der Kretschmer nicht gerade eine Freundschaft verbindet, dürfte bei ihrem jüngsten Besuch in Dresden nicht ohne Grund einen hellblauen Blazer getragen haben. So hatte der sächsische Ministerpräsident in der Gestalt seiner Parteichefin immer jene Farbe vor Augen, die ihm am meisten Sorgen bereitet: das Blau der AfD.

Frühzeitig hat er eine Zusammenarbeit mit der neuen politischen Bewegung ausgeschlossen, wie übrigens auch mit der Linkspartei. Mit wem aber will er regieren, wenn die CDU tatsächlich noch einmal stärkste Kraft werden würde?

Eine schwarz-rote Koalition hätte keine Mehrheit mehr. Bliebe ein Bündnis mit allen drei kleinen Parteien. Ob Bündnisgrüne und Liberale den Sprung über die Fünfprozenthürde ins Parlament schaffen, ist fraglich. Dann müßte Kretschmer eine Minderheitsregierung bilden. Die Linkspartei hat auf ihrem Parteitag in Hoyerswerda schon einmal angekündigt, eine solche dulden zu wollen. Oder bleibt als einziger Ausweg doch nur Merkels Kostüm, eine Koalition mit der AfD? Teile der Christdemokraten sind dem nicht abgeneigt, sollte die Alternative für Deutschland mit seriösen Kandidaten aufwarten.

Kretschmer klammert sich an den Strohhalm, daß trotz aller Prognosen nicht gewiß ist, ob die AfD ihre Erfolge vom September 2017 wiederholen kann. Der häufig rüde öffentliche Auftritt, nicht unbedingt ihrer Politiker, aber vieler ihrer Sympathisanten, schreckt den „gemütlichen“ Sachsen ab, der am Wahltag nur seine Stimme abgeben will und dann auf eine ruhige Regierungszeit in seinem Interesse hofft.

Vor diesem Hintergrund versteht sich die Medienkampagne gegen den Freistaat. Die Intendanten und Chefredakteure wissen genau, daß von jeder Negativberichterstattung bei den Konsumenten etwas hängenbleibt. Diese Stimmungsmache spüren viele Sachsen sehr genau. Es sind die aus Westdeutschland zugezogenen Eliten, die ihnen das Gefühl geben, unverstandene Fremdlinge im eigenen Land zu werden. Laut einer repräsentativen Umfrage der Sächsischen Zeitung sind zwei von drei Sachsen überzeugt, Bürger zweiter Klasse zu sein.  

Die Stärke der unentwegt gegen Sachsen die Nazikeule schwingenden Medien testet Kretschmer derzeit aus: Wie lange dauert eine Kampagne gegen ihn an, wenn er nicht zu Kreuze kriecht? Im Fall des von der Polizei kontrollierten ZDF-Fernsehteams blieb er bei seinem Statement, daß die Polizisten seriös gearbeitet hätten, während Dresdens Polizeipräsident der Kniefall vor den Medien zukam. Das Kalkül ist klar, Kretschmer will bei den Polizisten punkten, die sich all zu oft von der Politik im Stich gelassen fühlen. Interessant seine Äußerungen in Chemnitz, wo er die Einsicht kundtat, Sachsen sei auch „durch überregionale Berichterstattung“ für Extremisten attraktiver geworden. Geradezu doppeldeutig sein Twitter-Eintrag, daß man nicht zulassen werde, „daß das Bild unseres Landes durch Chaoten beschädigt wird“.