© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/18 / 31. August 2018

Mit Geduld, Fleiß und Disziplin
Klavierspielen müßte man können: Kann man im Alter noch ein Instrument lernen?
Markus Brandstetter

Wer über fünfzig ist und ab und zu vor Leuten Klavier spielt, der hört danach nicht selten diesen Satz: „Ich habe früher auch mal Klavier gespielt.“ „Und“, frage ich dann, „spielen Sie jetzt nicht mehr?“ Der oder die antwortet dann stets: „Ach, seit Jahrzehnten nicht mehr.“

Bei solchen Gelegenheiten stellt sich dann oft heraus, daß mein Gegenüber oft jahrelang Klavierunterricht hatte, nicht selten bereits ganz gut Klavier – oder ein anderes Instrument – spielen konnte, daß ihm (oder ihr) aber mit sechzehn, siebzehn Jahren die Lust abhanden kam, worauf er oder sie den Unterricht abgebrochen und das Klavierspielen aufgegeben hat. Nicht selten gegen den Willen der Eltern, die jedoch – von den ganzen pubertären Flausen, Attacken und Bocksprüngen ohnehin genervt – den Widerstand aufgaben und ihr Kind von der Musikschule abmeldeten. Heute nun bedauern viele dieser Leute, daß ihre Eltern damals nicht strenger waren und die Fortsetzung des Instrumentalunterrichts nicht gewissermaßen erzwungen haben. „Wären meine Eltern damals nur strenger gewesen“, heißt es, „dann könnte ich jetzt Klavier spielen.“

Heute, da sind sich alle diese Leute einig, würden sie gern wieder ein Instrument spielen. Und sie stellen sich die Frage: Kann man jetzt noch was machen? Kann jemand, der seit dreißig oder vierzig Jahren kein Klavier, keine Geige oder kein Cello mehr angerührt hat, im Alter, da er Zeit und Lust hat, wieder Musik zu machen, nochmals damit anfangen? Oder geht das gar nicht mehr?

Die Antwort lautet: Das geht sehr wohl. Erforderlich sind eigentlich nur Geduld, am Anfang eine gediegene Portion Frustrationstoleranz und später, wenn die Sache erst wieder in Gang gekommen ist, die Disziplin, jeden Tag eine halbe Stunde zu spielen. Aller Anfang ist schwer, und ein Wiederanfang nach Jahren und Jahrzehnten ganz besonders. Da ich mich mit dem Klavier am besten auskenne, exerzieren wir diesen Prozeß am Beispiel einer Frau im besten Alter, die wir Waltraud nennen, einmal durch.

Dazu nehmen wir an, daß Waltraud als Jugendliche insgesamt fünf Jahre Klavierunterricht hatte und bis zu Sonatinen von Clementi und Kuhlau, den zweistimmigen Inventionen von Bach, der Sonata Facile Köchelverzeichnis 545 von Mozart und der Sonate G-Dur Opus 49 Nr. 2 von Beethoven vorgedrungen ist. Wer solche Stücke irgendwann einmal flüssig spielen konnte, der war schon mal ganz gut. Nach dreißig oder vierzig Jahren Abstinenz vom Klavier ist davon jedoch nicht mehr viel geblieben. Aber etwas anderes ist noch vorhanden: die tief im Gehirn verankerte Erinnerung an diese Stücke. Und die muß nur wieder an die Oberfläche gezerrt werden. Das gelingt Waltraud aber jetzt nicht dadurch, daß sie die alten Noten vom Dachboden holt, den Staub wegbläst, sich fest entschlossen ans Klavier setzt und mit Verve loslegt. Nein, das führte nur zu Frust und Enttäuschung.

Übungen für eingerostete Finger

Besser ist es, zuerst einmal die Schmiere in die eingerosteten Finger zurückzubringen. Das geht am besten mit den Fingerübungen von Charles Louis Hanon (1819–1900), einem französischen Klavierpädagogen, der mit seinem Werk „Le Pianiste Virtuose en 60 Exercises“ eine bescheidene Unsterblichkeit erlangt hat. Nun gibt es zwar eine Menge Leute, die den Hanon aus tiefstem Herzensgrunde hassen, weil sie einst damit gequält wurden. Doch damals waren sie pubertierende Jugendliche voller Trotz und Eigensinn, die es Eltern und Lehrern einmal so richtig zeigen wollten – jetzt aber sind sie halbwegs vernünftige Erwachsene, die längst gelernt haben: „no pain, no gain“: ohne Schmerzen kein Gewinn. 

Dabei sind die Schmerzen ja gar nicht so groß. Deshalb kauft sich Waltraud den Hanon und nimmt sich pro Tag jeweils eine der ersten 31 Fingerübungen vor. Diese eine Übung spielt sie an jedem Tag exakt siebenmal durch – so lange, bis sie sie kann. Und so geht es weiter bis zur Übung 31. Allein das ist keine Kleinigkeit, denn diese Übungen sind trocken, langweilig und ohne allen musikalischen Gehalt. Aber für eingerostete Finger sind sie das reinste Manna, denn sie trainieren jeden einzelnen Finger, auch die so oft vernachlässigten der linken Hand. Nach und nach bringt dieses Stahlbad Waltraud entschwundene Geläufigkeit zurück und gibt ihr einen egalen Anschlag und einen runden, gleichmäßigen Ton, der die Grundlage jedes schönen Klavierspiels ist. So hervorragende Pianisten wie Sergei Rachmaninow, Vladimir Horowitz und Claudio Arrau haben ihr Leben lang die Hanon-Übungen gespielt.

Nachdem Waltraud dieses Horror-Programm gestartet hat, steigt sie gleich in die nächste pianistische Geisterbahn, über der in grellen Farben „Carl Czernys Schule der Geläufigkeit“ steht. Ein nicht besonders gescheiter und auch nicht sonderlich witziger österreichischer Kabarettist, der irgendwann ein paar Semester Klavier studiert hat, weshalb er sich für einen Musikexperten hält, hat einmal gesagt: Czerny sei so etwas wie legale Folter am Klavier. Das ist Unsinn. Carl Czerny (1791–1857) war der wichtigste Schüler Beethovens, der einzige professionelle Klavierlehrer von Franz Liszt und der wichtigste Klavierpädagoge des 19. Jahrhunderts. Das sagt eigentlich alles.

Czerny war aber nicht nur der gefragteste Klavierlehrer von Wien, sondern auch der eisenharte Vertreter einer positivistischen Pädagogik, die da sagt: Mit Geduld, Fleiß und den richtigen technischen Übungen, die bis zum Erbrechen wiederholt werden, kann jeder Mensch die 32 Klaviersonaten von Beethoven lernen. Waltraud will in diesem Leben allerdings gar nicht mehr in Pfarrsälen und Pflegeheimen mit allen Beethoven-Sonaten auftreten. Nein, sie will Freunden und Bekannten allenfalls zwei, drei Walzer von Chopin, ein paar Sonatinen von Clementi und Kuhlau und – wenn sie richtig in Form ist – als ihre große Bravournummer Beethovens Capriccio „Die Wut über den verlorenen Groschen“ Opus 129 vorspielen.

Geringeres Risiko, an Demenz zu erkranken

Deshalb kämpft sie sich auch nicht durch Czernys Kunst der Fingerfertigkeit Opus 740, die Czerny als Vorbereitung auf die Beethoven-Sonaten gedacht hat, sondern begnügt sich mit Czernys Opus 821. Das sind insgesamt 160 kleine Etüden, die den Klavierschüler von einfachen Problemen bis zu ganz erheblichen Schwierigkeiten führen – aber immer nur acht Takte lang sind. Für Hobbypianisten, die wenig Zeit mit Üben verbringen möchten und die das Durchhaltevermögen für seitenlange Klavierexerzitien einfach nicht mehr haben, sind diese Techno-Häppchen genau richtig.

Inzwischen übt Waltraud jetzt seit einem Jahr drei-, viermal in der Woche eine halbe Stunde Klavier. Die Hanon-Übungen haben sich als ganz schön anstrengend erwiesen, weshalb sie für jede Übung im Schnitt einen Monat gebraucht hat und daher bislang nur die ersten zwölf einigermaßen kann. Aber diese zwölf Übungen haben ihren Fingern eine Geläufigkeit und ihrem Anschlag eine Sicherheit verliehen, die sie sich selbst nie mehr zugetraut hätte.

Auch der Czerny ist ihr nicht leichtgefallen, aber die kleinen Etüden, die sich als überraschend wohlklingend erwiesen, haben ihr flinke Alberti-Bässe, schnelle Skalen und gleichmäßige Terztonleitern gegeben. Auch wenn es manchmal Überwindung gekostet hat: Waltraud hat heute wieder Spaß und Freude an der Musik und an neuen musikalischen Entdeckungen. Sie wird nie mehr eine große Pianistin werden, aber sie macht wieder selber Musik und hört und versteht dadurch Musik in Radio und Konzert tiefer und besser. 

Und noch einen anderen Vorteil hat das Klavierspielen für Waltraud: Wer im Alter wieder anfängt, ein Instrument zu spielen, der hat, das haben Studien gezeigt, ein deutlich geringeres Risiko, an Alzheimer und Demenz zu erkranken. Musikmachen ist gut für Gemüt und Gehirn.