© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/18 / 31. August 2018

Kaltwasserkuren
Zwischen Aristoteles und Peirce: Zum 90. Geburtstag des Philosophen Klaus Oehler
Wolfgang Müller

Unter allen Leitmedien hat die Zeit wohl am lautesten die Werbetrommel geschlagen, um für eine sich intellektuell dünkende Leserschaft Jürgen Habermas und den 2007 verstorbenen Carl Friedrich von Weizsäcker zur philosophischen respektive zur moralischen „Weltmacht“ aufzublasen.

Für Klaus Oehler hingegen, der am 31. August seinen 90. Geburtstag begeht, interessierte sich das Feuilleton des linksliberalen Wochenblatts nie, obwohl dieser Gelehrte über drei Jahrzehnte hinweg, von 1959 bis 1990, Philosophie an der Hamburger Universität gelehrt hat, fast in Hörweite zum Speersorter Redaktionssitz. Kleine Leute übersieht man halt, könnte Schnöseldorfer Arroganz diese öffentliche Nichtbeachtung rechtfertigen. Gemessen an den von Habermas und von Weizsäcker aufgetürmten Papierbergen nimmt sich Oehlers dem altpreußischen Prinzip „Viel leisten, wenig hervortreten – mehr sein als scheinen“ gehorchende Bibliographie in der Tat nicht imponierend aus. Für mehr als das Relief eines nur in Fachkreisen rezipierten Experten für antike Philosophie, namentlich für Aristoteles, spezieller gar für dessen Kategorienlehre, scheint sie nicht zu taugen.

Dem Terror der 68er hielt er tapfer stand

 Ein Fehlurteil, wie schnell erkennt, wer sich den Zugang zu diesem schmalen, aber gewichtigen Œuvre über Oehlers Autobiographie „Blicke aus dem Philosophenturm“ (Hildesheim 2007) erschließt, die den Denker als einen Vertreter der „skeptischen Generation“ der Adenauer-Ära und damit letztlich als geistigen Antipoden so dubioser „Weltmächte“ wie Habermas und von Weizsäcker  präsentiert. Wobei  über die Zugehörigkeit zu dieser Kohorte mehr als das Geburtsjahr das Herkommen entschied. So wuchs der 1928 in Solingen geborene Oehler in einer durch die Religion vorgegebenen Ordnung auf, in einer „Mischung aus Calvinismus und Pietismus“, wie sie typisch ist für die Gemeinde der Baptisten. In seinem Zeugnisheft sei deshalb in der Rubrik Konfession „christlicher Dissident“ eingetragen worden. Daran habe er in seinem späteren Leben stets denken müssen, „so oft ich wieder einmal quer zu dem jeweiligen Mainstream des Zeitgeistes lag“.

Diese Unangepaßtheit wurde während der NS-Zeit vor eine erste Bewährungsprobe gestellt. Die Oehler bestand, weil auf ihn, wie er sich selbstbewußt erinnert, die politische Heilslehre des Nationalsozialismus nie die geringste Faszination ausübte. Bei dem nur neun Monate jüngeren Habermas, dem begeisterten HJ-Führer, war das bekanntlich anders. Bei dem 1912 geborenen von Weizsäcker, dem Sohn eines hochrangigen Mitmachers, des Staatssekretärs Ernst von Weizsäcker, ebenso. Deren im Kern auf totalitäre Weltentwürfe fixierte mentale Disposition, nach Ansicht Oehlers typisch für große Teile des deutschen Bürgertums, habe sie nach 1945 gleich wieder nach neuen Rezepten suchen lassen, mit denen sich das Welträtsel lösen und die Welt sich von einem Punkt aus kurieren lassen könnte. Als Eleve und Erbe der Frankfurter Schule, deren Reetablierung der mit Horkheimer und Adorno vertraut umgehende Doktorand Oehler aus nächster Nähe beobachtete – die Charakterisierungen der beiden sind Glanzstücke seiner daran wahrlich nicht armen Autobiographie –, sei Habermas’ Utopismus konsequent von der nationalen Volksgemeinschaft über den neomarxistischen Internationalismus hin zur postnationalen, im verheißenen Glück des „herrschaftsfreien Diskurses“ badenden Kommunikationsgemeinschaft gesegelt. 

Während der im „elitär-esoterischen Höhenrausch“ entschwebte Freiherr von Weizsäcker, den Oehler als Lehrstuhl-Kollegen in Hamburg kennen-, aber nicht schätzenlernte, für sich einen der vorderen Plätze bei der ultimativen Stiftung des Weltfriedens und der Kreation eines Weltethos reservierte, bevor er 1970 vor dem „Studententerror“ ins eigens für ihn und Habermas eingerichtete Max-Planck-Institut „zur Erforschung der Lebensbedingungen der Wissenschaftlich-Technischen Welt“ floh.  

Klaus Oehler hingegen hielt der 68er-Bewegung in ihrem von Vorlesungssprengungen und Psychoterror dominierten Hamburger „Tollhaus“ tapfer stand, ohne freilich, wie er sarkastisch kommentiert, den durch sozial-liberale Bildungsreform, „Discount-Professoren“, linke Gesinnungsnetzwerke und sukzessive Niveauabsenkung bewirkten Ruin der deutschen Universität aufhalten zu können. Immerhin bleibt ihm der Ruhm, den von der „studentischen Pöbelherrschaft“ erstrebten Umbau des Hamburger Philosophischen Seminars zur „roten Kaderschmiede“ verhindert zu haben.

Um dem deutschen Erbübel beizukommen, im „Hunger nach Ganzheit“ und in der Sehnsucht nach finalen Lösungen, Politik mit Moral zu verwechseln, wie es sich heute in der realitätsblinden, von Weltrettungsphantasien befeuerten Politik des Merkel-Regimes austobt, vertraut der von antikem Gleichmut erfüllte Oehler auf die „Kaltwasserkur“ pragmatischer Philosophie. Deren Heroen, Aristoteles und dem US-Amerikaner Charles Sanders Peirce (1839–1914), widmete er seine wissenschaftliche Lebensarbeit. Aristoteles’ Realismus und  die zur „Klarheit unserer Gedanken“ verhelfende Zeichentheorie von Peirce sind ihm Medizin gegen ideologische Wolkenschiebereien jedweder Provenienz, gegen die „progressive“ Ignoranz gegenüber den anthropologischen Konstanten des menschlichen Daseins.