© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/18 / 31. August 2018

Mehr Rekonstruktion wagen
Tag der offenen Baustelle: Schlüterhof und Barockfassade des Berliner Schlosses in neuem Glanz
Peter Möller

In einem blassen Gelb präsentiert sich die rekonstruierte Barockfassade des Berliner Stadtschlosses, die auf der Lustgartenseite zur Hälfte bereits von den Baugerüsten befreit ist, makellos dem staunenden Publikum. Und das kam am vergangenen Wochenende zu Tausenden. Bis zu einer Stunde mußten Schloßbesucher auf Einlaß warten. Die mehrere hundert Meter lange Warteschlange reichte bis an das andere Ufer der Spree. Die Berliner nahmen das fast vergessene Schloß wieder in Besitz. Dabei zeigte sich: Auch in Berlin ist es wie immer bei architektonischen Rekonstruktionen. Zuerst gibt es viel Protest und Streit, doch am Ende will niemand dagegen gewesen sein. Denn (fast) niemand kann sich dem Zauber der wiedererstandenen steinernen Schönheit entziehen.

Zum letzten Mal vor der geplanten Eröffnung im kommenden Jahr stand die Baustelle des Stadtschlosses am vergangenen Wochenende den Besuchern offen. Dabei präsentierte sich der künftig als Humboldt-Forum genutzte Bau äußerlich bereits weitgehend fertiggestellt. Bald werden auch die letzten Gerüste verschwunden sein, die den Blick auf die wiedererstandene Barockfassade, für die bereits 85 Millionen Euro an Spenden gesammelt worden sind, noch stören. Und auch die unförmige sogenannte Humboldt-Box wird bald wieder abgebaut. Mit dem Info-Zentrum direkt neben dem Schloß wird derzeit noch für den Wiederaufbau und die künftige Nutzung des Schlosses für die ethnologischen Sammlungen der Berliner Museum geworben.

Im Schlüterhof ist man bereits weiter. Dort wurden die Gerüste für das Besucherwochenende komplett abgebaut, obwohl noch einige Ziegelwände unverputzt sind. Doch so konnten sich die Besucher bereits einen beinahe ungestörten Eindruck von dem architektonischen Meisterwerk des Barockbaumeisters Andreas Schlüter machen, dem der Schloßhof heute seinen Namen verdankt. Einzig eine große Bühne, auf der am Samstagabend die Berliner Philharmoniker ein Benefizkonzert gegeben hatten, mit dem die durch den Zweiten Weltkrieg beendete Tradition der Schlüterhofkonzerte wieder aufgenommen wurde, schränkte den Gesamteindruck etwas ein. Trotzdem: Zum ersten Mal seit dem Abriß des im Krieg schwer getroffenen Berliner Stadtschlosses durch das SED-Regime vor bald 70 Jahren konnten die Berliner ein Bild von der staatlichen Raumwirkung dieses barocken Meisterwerks gewinnen.

Wer im Schlüterhof mit dem Rücken zur Spreeseite des Schlosses steht, hat schönste, ausschließlich durch Spenden finanzierte Barock-Architektur vor Augen, auch wenn er die Blicke nach rechts und links zu den Schloßportalen I und V schweifen läßt. Er darf sich allerdings nicht umdrehen. Denn nur drei Seiten des Schlüterhofs stammen von Andreas Schlüter. Die vierte Seite bildete ursprünglich ein noch aus der Renaissance stammender Gebäudeflügel. Und hier beginnen die Probleme des Kompromisses zwischen einer detailgetreuen Rekonstruktion und der modernen Architektur.

Denn am Ende der sich mehr als zwei Jahrzehnte hinziehenden Diskussion, oder besser gesagt des erbittert geführten Streits über den Wiederaufbau des Stadtschlosses, stand die Einigung, nur die barocken Fassaden der ehemaligen Hohenzollernresidenz zu rekonstruieren. Einzige Ausnahme bildet die erst Mitte des neunzehnten Jahrhunderts von August Stüler entworfene Schloßkuppel, die komplett rekonstruiert wird. Doch alle Gebäudeteile aus früheren Zeiten, insbesondere die noch auf das Mittelalter zurückgehenden Teile an der Spree – und eben die vierte Seite des Schlüterhofes – mußten moderner Architektur weichen. Das war zwar allen, die sich mit der Schloßrekonstruktion beschäftigen, längst bekannt. Doch solange sich das neue Schloß im Rohbau befand und sich einheitlich in Betongrau präsentierte, spielte dieses Neben- beziehungsweise Gegeneinander zwischen barocker und moderner Architektur keine große Rolle, weil die Brüche visuell nicht erfahrbar waren. Das hat sich nun geändert – und entsprechend waren die Reaktionen vieler Besucher. So einhellig die Freude über die wiedererstandene feingliedrige barocke Pracht war, auch und gerade bei erklärten Skeptikern der Schloßrekonstruktion, so ernüchternd waren oftmals die Reaktionen mit Blick auf die neuen Teile des Schlosses.

Es beißt sich. Das wird besonders an den beiden Ecken des Schlüterhofes deutlich, wo Alt und Neu aufeinanderstoßen. Die von dem italienischen Architekten Franco Stella geschaffene glatte Rasterfassade, die immerhin farblich versucht mit den drei anderen Hofseiten mitzuhalten, wirkt, als sei dem Bauherren an dieser Stelle das Geld ausgegangen und als habe es daher nur für eine abgespeckte Notfassade gereicht. Zu unauffällig, um von Modernisten als erwünschter architektonischer „Bruch“ gefeiert zu werden, und zu belanglos um die Schloßfans zufriedenstellen zu können.

Es ist damit das eingetreten, was die Schloßbefürworter unter dem rührigen Wilhelm von Boddien immer erhofft und die Gegner des Wiederaufbaus immer befürchtet hatten: Wenn erst einmal barocke Fakten geschaffen sind, hat die moderne Architektur keine Chance mehr. Gegen Schlüter kommt selbst ein Franco Stella, der immerhin nicht versucht hat, den historischen Fassaden durch seine moderne Architektur die Show zu stehlen, nicht an.

Noch deutlicher als im Schlüterhof wird das Scheitern der modernen Schloßarchitektur an der Spreefront des Humboldt-Forums. Wo einst eine kleinteilig gegliederte, abwechslungsreiche Fassade aus mehreren Baukörpern mit Renaissance-Erkern und Türmchen einen malerischen Kontrast zum streng gegliederten Schlüter-Barock boten, riegelt nun eine wie mit dem Lineal gezogene Rasterfassade das Schloß zur Spree hin ab.

Aus diesem Befund kann es eigentlich nur eine Schlußfolgerung geben: Der Wiederaufbau muß weitergehen. Denn schon jetzt zeigt sich: der Appetit auf mehr Schloß ist geweckt. Oder wie es eine Besucherin formulierte: „Wenn schon rekonstruiert wird, dann alles.“ Das bereits Erreichte, sollte daher Ansporn sein, nicht nachzulassen und mehr Schloß zu fordern. Ein erster Schritt könnte sein, einen detaillierten Plan für einen möglichst historisch genauen Wiederaufbau des Spreeflügels vorzulegen, um langfristig eine öffentliche Diskussion über eine Vollendung des Wiederaufbaus auszulösen. Das gleiche gilt für ausgewählte Prunksaale des Schlosses, deren Rekonstruktion durchaus möglich wäre.

Das bedeutet nicht, daß bereits morgen damit begonnen werden kann, Stellas Spreefront wieder abzureißen. Das wäre unrealistisch. Aber in dreißig oder vierzig Jahren? Denn eines hat das Ringen um den Wiederaufbau des Stadtschlosses bereits jetzt gezeigt. Es bedarf eines langen Atems, um ans Ziel zu gelangen. Bis dahin können sich alle an dem bisher Erreichten erfreuen. Ja, es gibt Mängel. Es ist noch nicht alles gut im alten, neuen Schloß im Herzen Berlins. Aber es ist gut, daß es dieses Schloß endlich wieder gibt. Hier in der Mitte Berlins, die über Jahre wüst und leer war, ist mit dem (teilweisen) Wiederaufbau des alten Stadtschlosses etwas Großartiges entstanden, das es verdient hat, vollendet zu werden.

Weitere Informationen und Spenden: Förderverein Berliner Schloß e.V., Postfach 56 02 20, 22551 Hamburg, Telefon: 040 / 89 80 75-0

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