© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/18 / 31. August 2018

Pankraz,
El Ghazzali und der Glaube der Atheisten

In den arabischen Ländern wächst überall der Druck auf Andersgläubige, nicht nur auf Christen oder Jesiden, sondern auch auf erklärte Atheisten. „Unter der Kuppel des ägyptischen Parlaments“,  schrieb neulich der aus Marokko in die Schweiz emigrierte Schriftsteller Kacem El Ghazzali in der Neuen Zürcher Zeitung, „arbeiten die Minister gerade an einem Gesetzentwurf zur Kriminalisierung des Atheismus. Gemeinsam mit der Al-Azhar-Universität, der höchsten religiösen Autorität im Land, berät ein ‘Religionskomitee’ über Strafmaßnahmen, die Atheisten zukünftig abschrecken sollen.“

Was Pankraz an dem Aufsatz auffällt, ist die Selbstverständlichkeit, mit der der Atheismus von den Professoren der renommierten Al-Azhar-Universität (und auch von El Ghazzali selbst) als „Religionsgemeinschaft“ neben anderen (Christentum, Jesidismus) hingestellt wird, als eine Glaubensgemeinschaft, als bloße „Sekte“, deren einzelne Glaubenssätze man leicht auflisten,  nebeneinanderstellen und beurteilen beziehungsweise aus der Perspektive eines „rechten Glaubens“ verurteilen und kriminalisieren kann. Zumindest in der abendländischen Geistes-

tradition ist das bekanntlich grundlegend anders.

Hier gilt (und galt schon seit Demokrits Zeiten in der Antike)  die Überzeugung, daß der Atheismus keine Glaubensrichtung neben anderen sei,  sondern die Abschaffung des Glaubens als seriöser Weltbetrachtung insgesamt, seine Ersetzung durch die „Wissenschaft“ als einem Kompendium aus sinnlicher Beobachtung und mathematischer Formalisierung. Was da vom Glauben übrigblieb, war durch und durch zweite Klasse: private Überzeugung ohne jede Beweiskraft, allenfalls durch lange Tradition bekräftigt und nur allzu oft politisch hoch gefährlich, den öffentlichen Frieden in grausame „Glaubenskriege“ verwandelnd.


Atheismus war gleichbedeutend mit Götterlosigkeit. Man stritt nicht mehr um die Vorherrschaft dieses oder jenes Gottes, heilige Dreifaltigkeit kontra Allahs Allmacht, Christus kontra Mohammend, sondern gegen den Gottesbegriff überhaupt, ja letztlich gegen den Begriff des freien Geistes überhaupt. Es gab angeblich keine Geistesfreiheit. Sich eine Freiheit des Geistes einzubilden, war pure Illusion, abhängig von „materiellen“, nämlich atomaren, rein quantitativen Bewegungen. die es mittels sogenannter „Studien“ (sprich: simplen Zählungen) zu fixieren und mathematisch zu formalisieren galt.

Man kann es auch so sagen: Den einzigen Nachdenker, den einzigen  „Gott“, den der Atheismus übrigläßt, ist das atomare „Teilchen“, das (so der originäre Wortsinn) ungeheuer winzige „Unteilbare“, und das Universum besteht aus nichts weiter als aus dem ewigen Tanz der Teilchen. Die Wissenschaft, die den Glauben – zumindest aus den Köpfen der wahrhaft Gebildeten – so erfolgreich vertrieben hat, kann nichts weiter tun, als die Bewegungen dieses Tanzes sorgsam zu zählen und sich die Frage nach dem Warum des Ganzen zu verkneifen. Man frage nicht mehr nach dem Warum, sondern nur noch nach dem Wie!

Freilich, diese Frage geht immer weniger auf; die Frage nach dem Warum hingegen wird von Tag zu Tag lauter; und zwar nicht zuletzt in der Wisenschaft selbst. Zunächst mußte sie zur Kenntnis nehmen, daß die Atome keineswegs in sich einheitlich und stabil waren. Sie bestanden im Gegenteil aus einer Fülle von Unterabteilungen und Spezalphänomenen, und diese waren ihrerseits keinesweg stabil.

Schon wenn die Wärmezufuhr nur verhundertfacht wurde, wurde ihre Struktur zerstört, und da dies bei den Leben und Tod spendenden Sonnen des Weltalls durchweg der Fall ist, wäre zu konstatieren: Der größte Anteil der „Materie“ im Universum existiert in einem Zustand, der mit den schönen Atommodellen mit ihren Elektronen und Kernen und Protonen und Neutronen und Positronen und Neutrinos nicht das geringste zu tun hat.


Es handelt sich in Wahrheit um ein blindes Hin und Her von Energien und Energieballungen, die – nach den Worten des großen Physikers Robert Oppenheimer – einen „kränkenden Mangel an Bedeutung“ aufweisen. Die Teilchen, die uns bei experimentell erzeugten Zusammenstößen begegnen, zerstückeln oft – und dennoch werden sie dabei nicht kleiner. Die Stücke sind Teilchen der gleichen Art, die Teilchen sind zerstörbar und unzerstörbar in einem, es sind also gar keine Teilchen, es sind in unserem Bewußtsein erscheinende Abbilder  willenshafter energetischer Konstellationen.

Die gegenwärtige Wissenschaft läuft schier über von solchen scheinbar absurden, sie – die Wissenschaft selbst – widerlegenden Konstellationen, und ihr sozialer Nutzwert wird dabei immer fragwürdiger. Wurde das Leben früher durch sie eindeutig leichter, bequemer und facettenreicher, so ist heute vielerorts das Gegenteil der Fall. Immer mehr wissenschaftlich-technologische Neuerungen machen das Leben eindeutig öder, zwanghafter, ja unmenschlicher. Roboter nehmen den Menschen die Arbeitsplätze weg, verwandeln sie in willenlose Konsumidioten, laufen geradezu auf ihre Selbstaufgabe hinaus. 

Die atheistische Selbstermächtigung des Menschen, der sich ungeniert an die leergeräumte Stelle Gottes setzen wollte, kommt an ihr Ende. Allerdings: Die von Kacem El  Ghazzali beim Namen genannten aktuellen Versuche professoraler islamischer Aufsichtsbeamten, dem Übel Einhalt zu gebieten, indem man Atheisten offiziell zur Glaubenssekte erklärt und sie kriminalisiert und ins Gefängnis steckt, sind selber von Übel. Glaubensüberzeugungen dürfen nie und nimmer zu  Straftaten erklärt werden. Wer es dennoch tut, macht sich seinerseits strafbar.

Was den Atheismus betrifft, so ist er keine Glaubenssache, sondern im schlimmsten Fall  Dummheit, im besten Fall übertriebener Skeptizismus, allzu großes Vertrauen in die Macht des Zweifels. Aber Dummheit ist – vielleicht – heilbar, übertriebener Zweifel – mit Sicherheit – korrigierbar. Man muß sich nur Mühe geben.