© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/18 / 31. August 2018

Die Mär vom rosigen Ausland
Nigeria: Die „Nationale Behörde zur Bekämpfung des Menschenhandels“ bietet der Unwissenheit und der Migrations-Geschäftemacherei Paroli
Marc Zoellner

Für Monisola begann die Hölle auf Erden mit einer Einladung. „Eine Freundin, die behauptete, sie lebe nun in Dubai, machte mich mit einer Maklerin in Abuja bekannt“, berichtet die kaum zwanzig Jahre alte Nigerianerin nach ihrer Rückkehr in ihre Heimatstadt Lagos dem  Nachrichtenportal Premium Times. „Die Maklerin versprach, ich würde als Verkäuferin nach Saudi-Arabien gehen und dafür 150.000 nigerianische Naira pro Monat verdienen.“ Umgerechnet rund 340 Euro, stellt das für nigerianische Verhältnisse eine stolze Summe dar. 

Immerhin leben im bevölkerungsreichsten Staat Westafrikas noch immer zwei Drittel der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Gerade in den unterentwickelten ländlichen Regionen schwankt der monatliche Nettoverdienst meist zwischen 50 und 250 Euro. Eine hohe Arbeitslosigkeit sowie der dramatische Wertverlust des Naira wirken sich überdies deutlich auf die Lebenshaltungskosten in Stadt und Land aus.

Schmuggler verzeichnen deutliche Zuwächse

Es sind soziale Umstände wie diese, die Monisola vertrauensselig in die Hände ihrer Peiniger wandern ließen. Tatsächlich verlief anfangs alles wie von der Maklerin versprochen: Kostenfrei erhielt Monisola einen Reisepaß samt Visum für Saudi-Arabien, ihr wurde ein Arbeitsvertrag zugestellt, und nach gründlicher körperlicher Untersuchung bescheinigte ein privater Arzt der jungen Frau die medizinische Unbedenklichkeit für eine Einreise in das wohlhabende Petrokönigreich. 

Für zwei Jahre hatte Manisola unterschrieben, als sie Ende Dezember 2017  zusammen mit einer Gruppe anderer nigerianischer Mädchen ihr Flugzeug der Ethiopian Airlines bestieg. Doch bereits die ersten Tage nach der Ankunft sollten Manisola endgültig die Augen öffnen. „Sämtliche Schritte wurden durch die Maklerin abgewickelt“, erzählt die noch immer unter ihren Erinnerungen leidende junge Frau. „Als wir in Saudi-Arabien ankamen, war alles ganz anders. Mein Reisepaß wurde mir weggenommen und ich endete als Haushaltshilfe.“

Adefolakemi kann Monisalas Geschichte nur bestätigen. Beide fielen sie auf das ominöse Angebot der unbekannten Maklerin nach einer Glück versprechenden Zukunft herein. „Sie haben mich einer Familie übergeben, welche der Makleragentur 16.000 saudische Rial [umgerechnet etwa 3.700 Euro] für mich zahlte“, schildert Adefolakemi ihre Lebensumstände in der ostsaudischen Millionenmetropole Khobar. „Man sagte mir, ich müsse jeden Tag von fünf Uhr früh bis neun Uhr abends arbeiten, mit einer Stunde Pause täglich. Mir ist nichts erlaubt. Ich habe Hausarrest. Selbst wenn ich nur den Müll rausschaffen möchte, hat der Sohn der Familie mich zu begleiten.“

Was Adefolakemi und Monisala zu berichten haben, sind grausige Erzählungen von Mißhandlungen und Freiheitsberaubung, von Vergewaltigung und Menschenhandel – und bei weitem keine Einzelschicksale. Allein fünfzig weitere dieser Fälle wurden in den vergangenen Monaten von der nigerianischen Botschaft in Saudi-Arabien dokumentiert. 

Die Dunkelziffer jedoch mag in die Tausende gehen. Denn oftmals haben die Mädchen keine Möglichkeit, in Kontakt zur Außenwelt zu treten. Ihre Mobiltelefone werden ihnen entzogen, der Zugang zum heimischen Internet verwehrt. Für eine potentielle Rückkehr nach Nigeria werden von den Mädchen exorbitante Summen oder die vergütungslose Abarbeitung ihrer „Schulden“ verlangt: Immerhin, so die Begründung, hatten auch die saudischen Familien hohe Preise für die nigerianischen Mädchen an die jeweilige Agentur bezahlt. „Sie haben mir sogar eine Frau aus Nigeria geschickt, die mich zum Bleiben überreden sollte“, erklärt Adefolakemi. „Sollte ich mich weigern, sagte diese, würde man mich der Polizei übergeben, die mich gruppenvergewaltigt und ins Gefängnis wirft.“

Zwar zählt Nigeria zu den Erstunterzeichnern des „Übereinkommens der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität“ sowie dessen „Zusatzprotokoll gegen den Menschenhandel insbesondere von Frauen und Kindern“. Trotz alledem erlebt das Geschäft der menschlichen Ausbeutung eine regelrechte Blütezeit. Nicht nur Mädchen und junge Frauen sind dabei vom Menschenhandel betroffen.

 Allein unter den auf der Mittelmeerroute zwischen Libyen und Italien aufgegriffenen nigerianischen Frauen, verdeutlicht die Internationale Organisation für Migration (IOM) in einem Bericht, seien über achtzig Prozent von Schmugglerbanden angeworben worden. Über zehntausend Nigerianerinnen müssen in Italien als Prostituierte arbeiten, viele von ihnen seien Opfer von Menschenhändlern, erklärt Julie Okah-Donli. Seit April 2017 leitet die Anwältin die nigerianische „Nationale Behörde zur Bekämpfung des Menschenhandels“ (NAPTIP). 

„Nigeria ist eine Quelle, ein Durchgangs- sowie Zielland des Menschenhandels mit einem deutlichen Zuwachs des Problems in den vergangenen Jahren“, bestätigt das „Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung“ (ODC). „Nigerianer haben kriminelle Gruppen in Zielländern wie Italien, Spanien, den Niederlanden und Saudi-Arabien gegründet. Nigerianische Frauen bilden einen hohen Prozentsatz an gefährdeten Sexarbeitern in Italien, den Niederlanden, Belgien, Irland, der Schweiz, Saudi-Arabien, Marokko und Libyen.“ 

Die Fallbeispiele sprechen für sich: Erst Ende März dieses Jahres gelang es einer Sondereinheit britischer und spanischer Polizeikräfte, in Spanien 39 junge Nigerianerinnen aus den Händen einer Zuhältergang zu befreien. Ganze 89 Verhaftungen folgten dieser Razzia – die Täter stammten allesamt selbst aus Nigeria. Und Mitte November vergangenen Jahres fand im italienischen Salerno die Beerdigung von 26 nigerianischen Mädchen statt. Allesamt waren sie im Mittelmeer ertrunken – von ihren nigerianischen Schmugglern auf hoher See über Bord geworfen. „Es ist sehr wahrscheinlich, daß diese Mädchen Opfer des Handels zur sexuellen Ausbeutung wurden“, erklärte Federico Soda, Mittelmeerbeauftragter der IOM.

„Ehrlich gesagt ist das moderne Sklaverei“

Über die tatsächlichen Dimensionen des Menschenhandels in ihrem Heimatland weiß wohl niemand besser Bescheid als Julie Okah-Donli. „Wir beobachten, daß der Menschenschmuggel sich fort vom analogen Zeitalter der Rekrutierung von Person zu Person und hin zu gut organisierten kriminellen Online-Netzwerken entwickelt hat“, berichtet Okah-Donli von ihren Erfahrungen der ersten anderthalb Dienstjahre. „Es sind Netzwerke, entwickelt, um selbst unsere besten Agenten noch täuschen zu können.“ Vor allem zeigt sie sich entsetzt darüber, daß viele junge Nigerianer im falschen Glauben, daß das Leben im Ausland immer besser und rosiger sei, das Land verließen. 

Seit ihrer Gründung im Juli 2003, gut drei Jahre nach der Ratifizierung des UN-Übereinkommens durch die nigerianische Regierung, hat sich das Aufgabenfeld der NAPTIP dramatisch erweitert. Beamte der Behörde, die unter dem Motto „Ermächtigt, euch zu schützen“ agiert, begleiten derzeit Hunderte junge Männer, die von verschiedenen Mafiaclans als sogenannte „Drogenmulis“ mißbraucht worden sind und nun in marokkanischen Gefängnissen ihre Strafe absitzen; ein Land, mit welchem Nigeria kein Auslieferungsabkommen besitzt. Überdies durchleuchtet die NAPTIP die Strukturen und Netzwerke lokaler Menschenhändlerbanden und leitet durchaus auch selbst Verhaftungen in die Wege. Zuletzt stürmten Beamte der Behörde Anfang Mai ein Hotel nahe der Hauptstadt Abuja, in welchem dreizehn Mädchen von einer Schmugglergang festgehalten worden waren.

Hauptaugenmerk neben der rechtlichen Verfolgung von Straftätern sind allerdings die Rückführung und Reintegration verschleppter Mädchen und Frauen in die nigerianische Gesellschaft geworden. Es ist ein Teufelskreis: Was diese Mädchen schließlich leichtgläubig in die Hände ihrer Ausbeuter trieb, war die vorherrschende Armut ihrer eigenen Herkunftsgebiete, die dortige Perspektiv- und Arbeitslosigkeit. Und das bei einer schier unbewältigbar erscheinenden Anzahl an Opfern, und ebenso mit nur kleinstmöglichem Budget – denn der nigerianische Staat ist nach der Rezesssionphase 2016 immer noch  gezwungen, einen drastischen Sparkurs zu fahren. „Unser Budget ist äußerst gering, weswegen wir uns mit den Menschen zusammentun müssen“, konstatiert Okah-Donli die Situation ihrer Einrichtung. „Wir haben internationale Behörden, die uns zu Hilfe kommen, und auch private und öffentliche Organisationen, die uns von Zeit zu Zeit unterstützen.“

Trotz aller finanziellen und bürokratischen Hemmnisse läßt sich der Erfolg von Okah-Donlis Behörde auch statistisch gut nachvollziehen: Ende August gab die NAPTIP bekannt, seit 2003 über 12.000 Nigerianerinnen aus dem Zugriff ihrer Schmuggler befreit zu haben. Etwa die Hälfte davon erhielt nach ihrer Rückkehr in die Heimat überdies die Möglichkeit einer Ausbildung, um der Armutsspirale zu entrinnen. 

Die Täter indessen seien weit schwerer zu fassen. So erfolgten in den vergangenen 15 Jahren gerade einmal 389 Verhaftungen. Viele kriminelle Banden seien bestens hinter legalen Scheinfirmen versteckt, die auch auf sozialen Netzwerken wie Facebook ganz offen auf englisch und arabisch um Quereinsteiger für Zeitarbeitsstellen im Ausland werben – in Saudi-Arabien, Marokko, dem Oman, Libyen und Europa sowie auf den Malediven. „Es ist organisierte Kriminalität“, warnt Okah-Donli vor Angeboten solcher Firmen.

 Im Gegensatz zu Tausenden anderen verschleppten nigerianischen Frauen und Mädchen hatte Monisola noch einmal Glück: Ihr gelang diesen Sommer, den Schrecken ihres Martyriums zu entkommen. Ein Journalist, der auf ihren Fall aufmerksam geworden war, kontaktierte kurzerhand die NAPTIP, welche wiederum über die nigerianische Botschaft in Riad die Rückführung Monisolas erwirkte. 

Das Schicksal Adefolakemis hingegen ist ungeklärt. Zuletzt saß sie noch immer im wahhabitischen Königreich fest. Die saudischen Behörden betrachten ihre Behandlung in Einklang mit gültigem Landesgesetz. Adefolakemi sieht das anders: „Ehrlich gesagt ist das moderne Sklaverei“, gab sie unlängst im Interview mit der nigerianischen Tageszeitung The Nation preis. „Ich habe diesen Job angenommen, weil es mir so gesagt wurde und weil ich dachte, daß es ja im Ausland besser als Nigeria wäre. Ich wußte nicht, daß diese Leute uns wie Tiere behandeln.“

Foto: Nigerianische Prostituierte in Mailand: Die Frauen werden mit einem Job geködert, in Italien werden sie gezwungen, ihre Körper zu verkaufen