© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/18 / 24. August 2018

Sagrada Familia als Ruine westlicher Dekadenz
Der Publizist Michel Onfray präsentiert neue Variationen über Aufstieg und Fall der abendländischen Kultur
Felix Dirsch

Geschichtsphilosophische und gesellschaftskritische Entwürfe sind immer ein Spiegel der sozialen Stimmungslage. Als die Öffentlichkeit nach der Wende von 1989/90 noch euphorisiert war, konnte Francis Fukuyama mit seiner optimistischen These vom „Ende der Geschichte“ einen Bestseller landen. Doch das Vakuum, das der Kommunismus hinterließ, füllten nicht, wie der US-Politologe anfangs verkündete, Marktwirtschaft und westliche Demokratie, sondern die Faktoren Kultur und Religion. Der Islam spielt in diesem Kontext eine führende Rolle.

In Frankreich ist diese Botschaft im Establishment deutlich wohlwollender aufgenommen worden als in Deutschland. Der bekannte Buchautor und Gründer der Caener „Volksuniversität“ Michel Onfray hatte wohl im Sinn, dem vielbeachteten belletristischen Werk „Unterwerfung“ von Michel Houellebecq (JF 6/15) eine kongeniale Geschichtsphilosophie zur Seite zu stellen. Onfrays Perspektive des Niedergangs erinnert an die pessimistische Sicht Oswald Spenglers und ist nicht zufällig zum hundertjährigen Gedenken des Untergangbuches (JF 17/18) in deutscher Übersetzung erschienen. Im Gegensatz zu diesem benennt Onfray jedoch das Ergebnis der Dekadenz klarer: Die rasche Ausbreitung des Islam in Europa, dessen Dynamik die westliche Welt wenig entgegenzusetzen hat, findet nur wenig Widerstand.

Nun ist der erklärte Atheist Onfray nicht dazu prädestiniert, die schon seit längerem erodierende christliche Kultur in ihrer Relevanz herauszustellen; er weiß aber, daß kulturelle Ausdruckskraft nicht ohne starke religiöse Einflüsse denkbar ist. Wie der intellektuelle Leuchtturm Benedikt XVI. sieht Onfray die tendenzielle Leere der europäischen Kultur hauptsächlich durch den Substanzverlust des Glaubens bedingt. Die Sixtinische Kapelle wäre genausowenig ohne Transzendenzbezug zustande gekommen wie das Bachsche Orgelwerk. 

Selbst die Philosophie Nietzsches gäbe es ohne christliche Hintergründe nicht. Das erscheint trivial, und doch schreiben Kulturrelativisten auf der zu Spiegel Online gehörenden Plattform Bento: „Es gibt kein ‘christlich-jüdisches Abendland’. Alle drei Weltreligionen haben ihren Ursprung im Nahen Osten, also im Morgenland. Und alle drei beeinflußten Kunst und Kultur, Philosophie und Geschichte Europas.“

Onfray breitet seinen Bildungshorizont ausgiebig aus: Materialreich beschreibt er Geburt, Wachstum, Ausbreitung und Blütezeit der christlichen Kultur. Die dunklen Entwicklungen, etwa Hexenprozesse und Exzesse der Inquisition, werden ausführlich erörtert. Es folgen Erschöpfung und Vergreisung. Die im 18. Jahrhundert dominante Philosophie der Aufklärung, von Niccolò Machiavelli, Michel de Montaigne und Étienne de La Boétie in der Frühen Neuzeit partiell vorweggenommen, läßt kein gutes Haar am Christentum. Die Französische Revolution bedeutet den Auftakt für massive Verfolgungen von Gläubigen. Das folgende Jahrhundert mit seinen wissenschaftlich-technischen Innovationen und dem Vordringen glaubensfeindlicher Strömungen wie dem Sozialismus bringt einen größeren Abfall der Bevölkerung von der Kirche. Der Nihilismus mutiert zum zentralen Bestandteil der Gesamtkultur.

Die Europäer stellen heute ihr Selbstbild in Frage

Manche Akzentuierung des Autors ist allerdings höchst angreifbar. Faschismus und Nationalsozialismus versteht er als in toto christliche Reaktionen auf kirchenfeindliche Bewegungen wie Liberalismus, Kommunismus und Sozialismus. Das läßt sich kaum halten, ignoriert diese Sicht doch die Glaubensverfolgungen der Nationalsozialisten oder die dezidierte Kirchenferne ihrer ideologischen Speerspitzen in Partei und SS. Daran ändern auch gewisse zweckbezogene Bündnisse der Kirchen nichts, etwa mit dem französischen Vichy-Regime oder mit der Herrschaft Francos in Spanien. Im nachhinein stießen solche partiellen Übereinstimmungen auf viel Kritik, zeitbedingt jedoch waren sie kaum zu vermeiden. Man stand durchaus mächtig-gewalttätigen Gegnern gegenüber, was in heutigen von Moralismus dominierten historischen Betrachtungen gern ignoriert wird.

Der Verlust zentraler christlicher Inhalte in der Kultur, den ein konservativer Kunstkritiker wie Hans Sedlmayr vor sieben Jahrzehnten pointiert herausgestellt hat, stellt das Selbstbild der Europäer bis heute maßgeblich in Frage. Es bleibt ein schwammiger Begriff wie „Wertegemeinschaft“ übrig, der den Völkern des Abendlandes die Frage beantworten soll, wer sie sind und was sie ausmacht. Onfray zählt viele Beispiele dieses als „Wertewandel“ kaschierten Verfalls der autochthonen Europäer auf: von üblicher fortpflanzungsfreier Sexualität über die mediale Anpreisung der Homoehe bis zur nicht seltenen Abtreibung auf Krankenschein. 

Wer nicht weiß, welche kulturellen Hintergründe ihn tragen, der kann sie auch nicht verteidigen. Was vom Glauben übrigbleibt, sind höchstens gewisse humanitäre Impulse, die linke und liberale Eliten aufgreifen, um offenkundigen islamistischen Feinden der Herkunftskultur die Tür zu öffnen. Siegt am Ende der Mythos Bin Ladens, dessen sterbliche Überreste im Meer landeten, über den Jesu? Onfray läßt das Ergebnis offen. Der höhere Grad religiöser Bindung sowie Geschlossenheit und die signifikant höhere Geburtenrate von Muslimen, deren Anzahl durch die Massenmigration seit 2015 ohnehin ständig steigt, könnten durchaus entscheidend sein. Sagrada Familia darf schon vor diesem wahrscheinlichen „Endsieg“ als eine Ruine westlicher Dekadenz gelten.

Die Gesamtschau Onfrays ist lesenswert und bietet viele neue Einblicke in wichtige historische Abläufe. Verglichen mit dem argumentativen Aufwand sind freilich viele Schlußfolgerungen und das Resümee des Autors auffallend dürftig.

Michel Onfray: Niedergang: Aufstieg und Fall der abendländischen Kultur – von Jesus bis Bin Laden. Albrecht Knaus Verlag, München 2018, gebunden, 702 Seiten, 28 Euro