© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/18 / 24. August 2018

Das christliche Menschenbild der Marktwirtschaft
Die Bedürfnisse des anderen
Ingo Resch

Zum 200. Geburtstag von Karl Marx wurde mehr geschrieben und gesprochen als zum 2000. von Jesus Christus. Hier ging es nur um die Jahreszahl, das neue Jahrtausend, und wenn ein säkulares Medium sich auch der Person und seiner Lehren widmete, dann folgten kritische Stimmen zur Historizität der Person Jesus von Nazareth.

Daß der von Karl Marx initiierte Kommunismus weit über 100 Millionen ermordeter Menschen aufzuweisen hat, ist zwar bekannt, wird aber kaum beleuchtet, allenfalls mit dem Hinweis, daß dies nicht von Marx konzipiert worden sei, sondern durch falsches Umsetzen guter Ideen, wie durch Stalin, Mao und anderen. Weniger wird erwähnt, daß seine volkswirtschaftlichen Thesen falsch sind und als solche schon von den Wirtschaftswissenschaftlern seiner Zeit auch so benannt wurden. Zum Beispiel die Theorie der fallenden Profitraten, die dann zu einer immer größeren Akkumulation des Kapitals führen soll, ist insofern falsch, weil Kapital dort entsteht, wo neue Ideen erfolgreich umgesetzt werden. Nicht Krupp, Ford oder Rockefeller beziehungsweise deren Nachfolger sind heute die reichsten Menschen der Welt, sondern die Gründer von Microsoft, Apple, Facebook, Amazon, Aldi usw.

Warum aber ist die Soziale Marktwirtschaft erfolgreicher als der Kommunismus? Ihr Erfolg zeigt sich, weil sie Wohlstand gerade in die breiten Massen gebracht hat, die nach Marxens Theorien ausgebeutet würden, bis der Kapitalismus an seinen angeblich inneren Widersprüchen zugrunde ginge. Worin liegt die Ursache für den Erfolg dieses freiheitlichen Modells und das Scheitern des Kommunismus? Sie liegt letztendlich im unterschiedlichen Menschenbild.

Karl Marx, aus einer jüdischen Familie stammend und um seinen beruflichen Weg zu ebnen Protestant geworden, war Atheist. Die materiellen Bedingungen prägen, so sein Credo, das Bewußtsein. Die Ideengeber der Sozialen Marktwirtschaft, wie Wilhelm Röpke, Walter Eucken, Alfred Müller-Armack bis hin zu Ludwig Erhard, waren Christen. Sie haben ein Modell entwickelt, das die NS-Wirtschaft nach dem Krieg ablösen sollte. Was prägt ein christliches Menschenbild? Natürlich ganz wesentlich das Gebot der Liebe, aber die Grundlage, also die Analyse, wie der Mensch ist, steht im 1. Buch Mose, „Das Sinnen und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf“ oder bei Paulus „das Gute, das ich tun will, das tue ich nicht, sondern das Böse“. Was ist das Böse? Böse ist, wenn jemand Schaden leidet durch das bewußte Handeln eines anderen; wenn etwas zerstört wird.

Wie läßt sich dieser dem Menschen innewohnende Trieb mit politischen Mitteln zähmen? Durch die Diktatur des Proletariats, durch staatliche Überwachung, ausgeübt von Funktionären, oder durch den Wettbewerber? Wettbewerb war in der Zeit der industriellen Entwicklung in Europa nicht von vornherein gegeben. Im Gegenteil, es gab sogar staatlich geschützte Kartelle, die ihre Monopolsituation festigen konnten. Aber wer das biblische Menschenbild zugrunde legt, kommt zu dem Schluß, daß Macht über andere Menschen zu haben Raum für das Böse öffnet. Es geht hier um wirtschaftliche Macht. Auch ein staatlicher Kontrolleur und nicht nur der Monopolist hat Macht. Auch diese Macht kann, wie die Geschichte gezeigt hat, zum Schaden anderer mißbraucht werden.

Diese Welt ist grundsätzlich reich mit Gütern versorgt. Die teilweise bestehende Unterversorgung auf der Welt hat offenkundig mit Kriegen, Kommunismus und Korruption zu tun. Es läßt sich regional 

genauso an diesen 

Kriterien festmachen. 

Der Wettbewerb jedoch zwingt den Unternehmer, sein Angebot so zu gestalten, daß die optimale Versorgung der Menschen gewährleistet ist. Die Wettbewerber nötigen sich gewissermaßen gegenseitig, allerdings auf der Grundlage und Möglichkeit der freien Entscheidung. Der im Wettbewerb stehende Anbieter muß seine Leistungen so gestalten, daß dem Kunden das Bestmögliche geboten wird, sonst kann sich der Anbieter nicht auf dem Markt behaupten. Er muß zuerst eine Leistung erbringen im Gegensatz zum Monopolisten. Der Monopolist ist nicht gezwungen, die eigene Leistung auf eigenes Risiko zu erstellen, er kann auf die Nachfrage so reagieren, daß er seinen Gewinn maximiert. Dieser Zusammenhang führt aber zu einer Unterversorgung des Marktes. Es gibt weniger Waren oder Leistungen zu höheren Preisen. Den Schaden hat der Verbraucher. Die Soziale Marktwirtschaft ist jedoch mit dem Konzept des vollständigen Wettbewerbs darauf ausgerichtet, dem Verbraucher den größtmöglichen Nutzen zu gewährleisten.

Die politische Begrenzung von Macht wurde das erste Mal in England mit der Gewaltenteilung praktiziert, die dann Montesquieu auch in der bekannten Dreiteilung der Macht in Legislative, Judikative und Exekutive formuliert hat. Pate stand hierbei das christliche Menschenbild. Wie auch in dem Subsidiaritätsprinzip, in der katholischen Soziallehre entwickelt, das Entscheidungen und Verantwortung auf der Ebene beläßt, die am besten damit umgehen kann. Persönliche, individuelle Verantwortung zu tragen und für den anderen da zu sein, seine Leistungen zum Nutzen des anderen zu gestalten (auch wenn der Wettbewerber dazu zwingt, und den Anbietern deshalb nichts anderes übrigbleibt), gehört zum Proprium eines christlichen Menschenbildes, nicht zum marxistischen.

Einige der derzeit zu beobachtenden wirtschaftlichen Fehlentwicklungen in der westlichen Welt haben damit zu tun, daß nicht nur das Subsidiaritätsprinzip vernachlässigt wird, sondern auch auf einem anderen Gebiet ein Monopol die Freiheit des Marktes beeinträchtigt. Der empfindlichste Markt in einer freien Wirtschaft ist der Kapitalmarkt. Die monopolistische Festsetzung des Preises für Kapital, also den Zins, durch eine Zentralbank hebelt die feine Steuerung der Zinshöhe durch den Markt aus. Die verheerenden Fehlentwicklungen, zum Beispiel der privaten Altersversorgung, die Beeinträchtigung der Kapitalerträge von Stiftungen und das grundsätzliche Sparverhalten, werden sich in der Zukunft zeigen. Diese Ursachen der Fehlentwicklung haben aber mit dem Konzept der freien Wirtschaftsordnung nichts zu tun, sondern stehen dem entgegen.

Diese Welt ist grundsätzlich reich mit Gütern versorgt, so daß wir nur staunen, wie immer wieder Ressourcen erschlossen werden können. Wie ist diese optimale Kombination notwendiger Mittel entstanden? Die teilweise bestehende Unterversorgung auf der Welt hat offenkundig mit Kriegen, Kommunismus und Korruption zu tun. Es läßt sich regional genauso an diesen Kriterien festmachen. Das sinnvolle Nutzen dieser Ressourcen, das heißt eine effiziente Wirtschaft, hängt entscheidend von dem Weltbild ab, worauf schon Max Weber überzeugend hingewiesen hat.

Der Marxismus scheiterte, auch wenn seine Thesen noch immer in vielen Köpfen präsent sind. Er scheiterte, weil er nicht Gott, sondern die Materie als letzten Seinsgrund ansah. Materie ist allerdings nur Mittel. Es ist also entscheidend, von welchem Verständnis eine Kultur geprägt ist. Denn das Bild, das sich Menschen von Gott machen oder dem, was sie als Ursprung des Lebens annehmen beziehungsweise wie es ihnen vermittelt wird, prägt ihr eigenes Bild von sich selbst. Die Vorstellung, was und wie Gott ist, läßt sich nicht von dem trennen, wie der Mensch gesehen wird.

Das wird zum Beispiel auch deutlich, wenn man das Gottesbild und das Menschenbild, insbesondere bezogen auf Frauen und Feinde, im Islam vergleicht. Auch in der abendländischen Kultur können wir heute beobachten, wie geänderte Vorstellungen von Gott das Bild vom Menschen verändern. Gott wurde in unserer gegenwärtigen Vorstellung weitgehend als Schöpfer des Universums durch einen naturalistischen Prozeß abgelöst. Eine übersteigerte Egozentrik ist die Folge, sanft formuliert mit dem Credo der Selbstverwirklichung, denn wenn das „egoistische Gen“ den Prozeß der Selbstorganisation bestimmen sollte, kann kein anderes Ergebnis in unserer Vorstellung herauskommen.

Aus biblischer Sicht ist Gott Liebe, also sollte sich der Mensch nicht an sich selbst orientieren, sondern am Du, am Nächsten; dessen Bedürfnisse hat er zu sehen. Diese Bedürfnisse des anderen sollen den gleichen Stellenwert wie die eigenen besitzen. Aber die Menschheit hat sich von Gott getrennt. Das in der Bibel beschriebene Menschenbild ist deshalb so realistisch, weil es diese Trennung mit all ihren Konsequenzen zugrunde legt. Die Menschheit glaubt der widergöttlichen Botschaft mehr als Gott, und so wird diese von Gott abgelöste Welt mit all dem, was daraus folgt, als der Weisheit letzter Schluß angesehen. 

Die im Konzept der Sozialen Marktwirtschaft gefundene Struktur grenzt nicht die Freiheit ein, sondern ermöglicht Freiheit. Die Freiheit mobilisiert ungeahnte Kräfte, wenn sie beispielsweise zur unternehmerischen Entfaltung nicht 

behindert wird. 

In dieser Welt leben wir. Deshalb ist die Beschreibung des Menschen mit seinem Trieb zum Bösen realistisch. Deshalb benötigt ein Gemeinwesen Regeln, aber auch eine Ordnungsstruktur, die diese bösen Triebe bestmöglich begrenzt. Diese im Konzept der Sozialen Marktwirtschaft gefundene Struktur grenzt nicht die Freiheit ein, sondern ermöglicht Freiheit. Der Mensch soll Verantwortung tragen, der einzelne und nicht das Kollektiv. Er muß frei entscheiden. Nur wer Verantwortung trägt, ist frei. Und Freiheit mobilisiert ungeahnte Kräfte, wenn diese Freiheit beispielsweise zur unternehmerischen Entfaltung nicht behindert wird. Doch der Mensch im kommunistischen Ideal wird als gut angesehen, in der praktischen Konsequenz wird er jedoch unfrei.

Die Botschaft der Bibel geht allerdings weiter, der Mensch wird frei von dem auf sich selbst bezogenen Trieb. Gemäß dem heute in unserer Weltsicht dominierenden Naturalismus – auch die marxistische Lehre basiert darauf – soll der Mensch frei werden vom Du, von seinem Gegenüber, von seinem Nächsten. Dieses vermeintliche Freiwerden vom Du wirft ihn jedoch in eine Abhängigkeit seines Ego. Die den Menschen selbst belastenden Übel wie Habsucht, Macht und Neid werden verstärkt.

Der Marxismus lehrt, der historische Prozeß schaffe die gerechte Gesellschaft, wie auch der Darwinismus davon ausgeht, daß durch einen historischen Prozeß höhere und komplexere Lebewesen entstünden. In einem Fall ist es die Revolution, im anderen die Selektion. Beiden gemeinsam ist der Tod anderer als Mittel der Fortentwicklung. Marx und Darwin kannten sich, die von ihnen vertretene Weltsicht lag im Zeitgeist. Ihre entscheidenden Publikationen wie „Der Ursprung der Arten“, das „Kapital“ sowie das „Kommunistische Manifest“ erschienen in derselben Zeit. Weil der Darwinismus als unumstößliche Wahrheit angesehen wird, scheint das Geschichtsverständnis von Marx plausibel.

Die Bibel lehrt, daß die Gerechtigkeit aus dem vertrauensvollen Hinwenden des Menschen zu Gott kommt. Und damit wird die Grundlage vermittelt für ein Vertrauen der Menschen untereinander. Vertrauen ist das Schmiermittel einer freien Gesellschaftsordnung. Ohne Vertrauen kann eine freie Ordnung nicht existieren. Den Gegensatz verdeutlichte Lenin: „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.“

Wie soll der Mensch die beste Gesellschaft schaffen? Legt er selbst fest, was gerecht ist, was gut und was böse ist, dann ist dies sinnbildlich mit dem Griff zum Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen verbunden, wie es in der Genesis beschrieben ist. Dies ist unsere Situation. Deshalb ist die Welt, also das menschliche Zusammenleben, immer weniger zu steuern. Was gestern noch als schlecht angesehen war, gilt heute als gut und umgekehrt, weil der Mensch glaubt, dies selbst festlegen zu können. Das 20. Jahrhundert bietet dafür besonders eindrucksvolle Belege, was jeweils als gut galt. Mal sollten Kulaken und Kapitalisten, mal Juden und Zigeuner ermordet werden, heute ändern sich die Vorstellungen, was Abtreibung und geschlechtliches Zusammenleben anbetrifft. Mal galt eine freie offene Welt als gut, heute nicht mehr. Die Europäer wollten das Freihandelsabkommen nicht mehr, Trump will Strafzölle. Die GATT-Runden waren einst hoch gepriesen, heute ruft der Begriff Globalisierung Angst hervor. Es fehlt der außerhalb des Menschen liegende Fixpunkt. Deshalb läuft so vieles aus dem Ruder.

Aber der Traum der gerechten, allerdings von Ideologen erdachten und von Despoten gemachten idealen Gesellschaft wird wieder wach. Entsprechende Protagonisten sind auf der Bühne erschienen. Marx steht jedenfalls in China und Rußland immer noch und wieder hoch im Kurs, selbst Mao und Stalin dürfen geehrt werden. Auch in Deutschland wächst die Akzeptanz, die auch nicht durch die bedenkliche Zunahme der linken militanten Szene beeinträchtigt wird. So lag es für viele nahe, den 200. Geburtstag von Karl Marx inhaltlich mehr zu würdigen als den 2000. Jesu Christi.






Dr. Ingo Resch, Jahrgang 1939, ist Volkswirt, Verleger (unter anderem Roland Baader) und Buchautor. Zuletzt erschienen „Evolutionslehre und Bibel. Auswirkungen auf die Weltanschauung im Vergleich“. Er ist Mitbegründer der evangelischen Lukas-Schule in München.

Foto: Verkaufssituation auf dem Markt: Der Wettbewerb zwingt den Unternehmer, sein Angebot so zu gestalten, daß die optimale Versorgung der Menschen gewährleistet ist. Persönliche Verantwortung zu tragen und für den anderen da zu sein, seine Leistungen zum Nutzen des anderen zu gestalten gehört wesentlich zum christlichen Menschenbild, nicht zum marxistischen