© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/18 / 24. August 2018

Ein leidenschaftlicher Wellenzug
... der sich über den Himmel hinschreibt voll Großmut und Zorn: Von Schreiberhau nach Trautenau über den Kamm des Riesengebirges
Sebastian Hennig

Seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts suchen die Bewohner der dichter werdenden Städte die seelische Lockerung im Landleben und der Naturnähe. Die Orte der pommerschen Ostseeküste wie auch des schlesischen Riesengebirges wandelten sich dabei aus bescheidenen Verhältnissen in illustre Sommerfrischen.

Aus der Reichshauptstadt fuhr es sich bequem mit der Eisenbahn ins Seebad Ahlbeck oder nach Schreiberhau. Die Trasse der Zackenbahn zwischen Hirschberg und Polaun war sogar eine der ersten elektrifizierten Strecken Deutschlands. Wegen der geringen Auslastung von Schreiberhau bis zur böhmischen Grenze wurde hier 1926 ein neu entwickelter elektrischer Triebwagen eingesetzt, der den Spitznamen Rübezahl erhielt.

Vermutlich langte Erhart Kästner von Dresden her auf dieser Strecke an, als er 1936 Gerhart Hauptmanns Sekretär in Agnetendorf wurde. Der landschaftliche Eindruck wirkte bei ihm lange nach. In seinem Griechenlandbuch „Ölberge, Weinberge“ (1953) vergleicht er den Hausberg Athens, den langgestreckten Hymettos mit dem Kamm des Riesengebirges: „Genauso plötzlich steigt er als Wall aus der Ebene und fällt auch jenseits plötzlich wieder in die Ebene ab; er scheint, wie Gebirge im Spielzeug, eigens verfertigt und zuletzt erst dem Lande aufgesetzt zu sein. Auch das Kahle ist es, was beide Geschwister verschwistert und sie alt, heiter und weise macht, und daß man bei beiden querüberberg laufen kann, ohne Weg auf hohen Fluren, wie selten sonstwo. Und dann, vor allem, ist es dieselbe Kammlinie, ein leidenschaftlicher Wellenzug, der sich über den Himmel hinschreibt voll Großmut und Zorn. Nie wird das Auge müd, sich an dieser Himmelsdiagonale einfach zu machen.“

Beherbergungsbetrieb mit Zimmer-Waschbecken

Nachdem die Strecke von Reichenberg jahrzehntelang in Harrachsdorf endete, fahren die Züge seit 2010 wieder bis Oberschreiberhau. Vor dem alten Bahnhofsgebäude überragt der schlesische Kamm des Riesengebirges den Ferienort. Schreiberhau ist längst nicht mehr das Idyll der Schriftsteller Wilhelm Bölsche, Werner Sombart, Carl und Gerhart Hauptmann und Hermann Stehr. Der Fremdenverkehr hat hier inzwischen industrielle Dimensionen angenommen. Am Ortsausgang flicht ein halbes Dutzend Bauarbeiter die Stahlbewehrung für ein neues Luxushotel mit Bergblick. Während wir steil bergan steigen, kommen uns die Wanderer von einer Seilbahnstation entgegen. Von der alten schlesischen Baude schweift der Blick über die Landmarke der Burg Kynast in den Hirschberger Kessel. Über uns liegt der von seltsam verwitterten Granitklippen gesäumte Kamm des Gebirges. Hier gibt es die Quarg-, die Kuckuck-, die Pferde- und die Sausteine. Bevor die duftenden Latschenkiefern uns auf dem letzten Stück zum Reifträger in sich aufnehmen, erblicken wir einen jungen Mann am Wegesrand hockend, wo er mit Pinsel und Farbe die Wandermarkierung nachzieht. 

Die Berghütte auf dem Reifträger wurde zu einem komfortablen Beherbergungsbetrieb aufgemotzt mit Waschbecken auf den Zimmern. Von hier bis zur Schneekoppe läßt sich der Hauptkamm des Gebirges an einem Tag erlaufen. Die Grenzlinie zwischen Schlesien und Böhmen wurde bereits 1526 von den Habsburgern festgelegt. Der Teilabschnitt im Riesengebirge auf dem 1904 eröffneten Kammweg, der einst vom nordmährischen Altvatergebirge bis ins vogtländische Elstergebirge führte, wurde 1961 zu einem polnisch-tschechischen Freundschaftsweg umgewidmet. Mit der Verhängung des Kriegsrechtes in Polen wurde er 1981 gesperrt und war ab dann 1984 nur tschechoslowakischen und polnischen Staatsbürgern zu betreten gestattet. Bis hier im Jahr 2004 das Schengen-Abkommen verbindlich wurde, hatte der notgedrungen über die Grenze schweifende Wanderer, sofern er nächtens hier angetroffen wurde, eine Zwangszuführung in einen Beherbergungsbetrieb zu gewärtigen.

Wir brechen zeitig auf und nehmen das Frühstück unterwegs an der Quelle der Elbe. Die Granitblöcke des Veilchensteins sind gänzlich von der Landkartenflechte übergrünt. An den Schneegruben wirkt das Riesengebirge besonders riesig. Der Naturschriftsteller Wilhelm Bölsche erwirkte in den zwanziger Jahren, daß diese unter Naturschutz gestellt wurde. In ihren schattigen Klüften sind sonst bis in den Sommer hinein noch Schneereste zu erblicken. Nur in diesem Jahr nicht, da auf den Bergen die Heidelbeeren schon im Juli reiften. Die Schneegrubenbaude bleibt dem Wanderer verschlossen. Sie dient heute als Sender und Wetterstation. Auch das „Querüberberg laufen“, wie es Kästner rühmte, untersagt inzwischen der Naturschutz. An manchen Stellen wird die Übertretung beidseitig des Weges durch flach auf den Boden montierte Hölzer verhindert.

In dieser Frühe wagen wir den Abstecher aufs Hohe Rad. Der aus Steinbrocken geebnete Weg durch das Geröll wurde 2009 gesperrt. Auf der Höhe ragt noch der Unterbau des Denkmals für Kaiser Wilhelm I. empor. Der Torso mit den Resten der Rahmen für die Tafeln wirkt antik-großartig. Auf der Hauptstraße des Riesengebirgstourismus setzt sich das Figurentheater der Wollsackverwitterung fort mit dem Schnabel, den Mannsteinen und den Mädelsteinen. Während die Klippenherren wie eine Mauer zusammenstehen, zeigen sich die steinernen Fräuleins als pittoreske Gruppe von heiterer Schwerfälligkeit. Breithüftige Mädels in bäuerlichen Kleidern stehen locker da und schwatzen miteinander. Die Petersbaude brannte nach dreijährigem Leerstand im Sommer 2011 ab. Inzwischen geht ihr Wiederaufbau seiner Vollendung entgegen.

Über den Spindlerpaß als niedrigste Stelle des Kamms ergießt sich ein unablässiger Strom von Tagestouristen, wie sonst nur noch am Schlesierhaus zu Füßen der Schneekoppe. Ein reges Treiben nimmt uns wieder in sich auf. Kinderwagen und Familienausflügler kommen uns auf breiter Straße entgegen.  Bei der Einkehr kann zwischen Hütte und Palast gewählt werden. Gegenüber dem Viersterne-Hotel der tschechischen Spindlerbaude mit Tennisfeld und großem Busparkplatz steht immer noch das Jugendkammhaus „Rübezahl“, welches heute als polnische Jugendherberge genutzt wird. Dahinter wird der Weg wieder enger. Trotz der Hitze rinnt uns auf ihm sogar Wasser entgegen. Hinter dem Felsenriff des Mittagssteins hat sich eine alte Steinbank erhalten. Die drei roten Steinplatten auf der Rücklehne mit den Namen der Stifter sind diskret von grünen Flechten überwachsen. Ein Rentner, ein Schulrat und ein Professor haben ihr Andenken auf diese schöne Art bewahrt.

Ein Gewimmel wie auf der Prager Burg

Die Schneekoppe rückt nun ins Blickfeld. Sie wirkt ferner und höher als sie tatsächlich ist. Von unten starren die dunklen Augen der beiden Karseen, des großen und kleinen Teichs, zu uns herauf. Zum Schlesierhaus am südlichen Rand des Koppenplans führt der Weg als Pflasterstraße. Die Baude ist umlagert wie ein Marktplatz. Bestellte Gerichte werden per Mikrofon ausgerufen. Südwestlich zweigt hier der Böhmische Kamm mit dem Brunnberg und Hochwiesenberg ab. Wir jedoch wenden uns östlich und steigen aus dem Paß hinauf zum höchsten Gipfel des Gebirges, der Schneekoppe. Dieser Weg ist unterdessen mit einem Kettengeländer aus Edelstahl gesäumt. Zugleich herrscht hier ein Gewimmel wie auf der Prager Burg. Die Aura des Ortes muß mit aller Kraft beschworen werden, damit der sagenhafte Berg nicht in der Banalität des Massentourismus versinkt und unser Auge hier ermüdet, „sich an dieser Himmelsdiagonale einfach zu machen“, wie Kästner es uns empfiehlt.

Wir nehmen den südlichen steilen Abstieg unter der Seilbahntrasse nach Petzer und gelangen auf den Sattel des Rosenbergs. Die Wiesenenklaven zeugen von der vormaliger Bewirtschaftung und Handelsverkehr. Holzfällerfamilien wie die Sagasser und Hofer kultivierten vor fünfhundert Jahren den Urwald. Mit dem Tod von Richard Sagasser im Jahr 1976 ging das zu Ende. Seit seinem 14. Lebensjahr hatte er als Holzfäller geschuftet und war aus dem Krieg von der Ostfront mit einem Kopfschuß zurückgekehrt. Im Alter von 53 Jahren starb er in einer der Hütten, die er nach 1945 zur Miete weiter bewohnen durfte.

Den Hoferbauden auf der gegenüberliegenden Wiese entstammten bekannte Koppenträger, die vormals das Brennholz, das Baumaterial und die Lebensmittel für die Hütten auf den Berg buckelten. Auf einem Wiesenhang des Löwengrundes stehen die Bauden von Simmaberg bis heute ohne Stromanschluß und zum Teil noch mit Holzschindeln eingedeckt. Ein Fahrweg dahin wurde erst in den achtziger Jahren angelegt. Oberhalb der Aupa gelangen wir durch den Wald zu unserem Nachtlager in Obermarschendorf. Am nächsten Tag laufen wir durch das Rehorngebirge hinab nach Trautenau und treffen dabei auf die Überreste des Tschechoslowakischen Walls von 1938, dessen massivster Abschnitt sich von hier aus ostwärts erstreckt.