© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/18 / 24. August 2018

Symptom der Krise
Linke: Sahra Wagenknecht will sich mit ihrer Sammlungsbewegung eine breitere Machtbasis verschaffen
Karlheinz Weißmann

Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es auf der deutschen Linken einen breiten Konsens. Dessen Kern war das Bekenntnis zu Nation und Sozialismus. Weder Kommunisten noch Sozialdemokraten, noch Anhänger eines „Dritten Weges“ wollten ein weiteres Mal in den Verdacht geraten, „vaterlandslose Gesellen“ zu sein. Ganz gleich, ob man die Wiedervereinigungspropaganda der DDR oder die wütenden Angriffe Kurt Schumachers auf Konrad Adenauer als „Kanzler der Alliierten“ oder Alfred Anderschs Kritik der Umerziehung nimmt, stets ging es darum, deutlich zu machen, daß Deutschland keinen entschlosseneren Anwalt habe als die Linke. Noch Rudolf Augsteins Ablehnung der Westbindung, die Auftritte der SPD-Granden vor den Vertriebenen, die Konföderationspläne der Neutralisten, Helmut Schmidts „Modell Deutschland“ und die Agitation der Friedensbewegung gegen die „Besatzer“ kann man in diesen Zusammenhang einordnen.

Allerdings war in den 1980er Jahren auch ein Endpunkt erreicht. Der „faschistische Schock“ – weiland ausgelöst durch die Erkenntnis, daß die „Volksgemeinschaft“ anziehender ist als die klassenlose Internationale – hatte seine Wirkung verloren, der Antipatriotismus der „Zweiten Aufklärung“ und der Achtundsechziger setzte sich durch. Das waren die Zeiten, als Oskar Lafontaine seinem Parteifreund Schmidt vorwarf, mit dessen Sekundärtugenden lasse sich auch ein KZ betreiben, die „europäische Nation“ ersehnte, das Beinahe-Savoir-Vivre im Saarland kultivierte, daselbst den Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker mit allen Ehren empfing und sich als Vorsitzender der SPD beim Zusammenbruch der DDR entschieden gegen die Wiedervereinigung aussprach.

Das ist zugegebenermaßen lange her. Lafontaine hat seine Partei verlassen und eine neue politische Heimat bei den Postkommunisten gefunden. Eine Art Zwischenschritt war sein Engagement für die „Wahlalternative Arbeit & soziale Gerechtigkeit“ (WASG). Bei einer Kundgebung in Chemnitz 2005 fiel dann die skandalträchtige Äußerung, „daß Familienväter und Frauen arbeitslos werden, weil Fremdarbeiter zu niedrigen Löhnen ihnen die Arbeitsplätze wegnehmen“.

Daß einem professionellen Politiker der kontaminierte Begriff „Fremdarbeiter“ unbeabsichtigt herausrutschte, darf man bezweifeln. Genauso unwahrscheinlich ist Lafontaines plötzliche Bekehrung zur Nation. Es dürfte sich eher um eine Art Test gehandelt haben. Die mediale Empörung und die Verstörung seines Bündnispartners PDS nahm Lafontaine dabei billigend in Kauf. Ging es doch darum, festzustellen, ob das eigene Wählerpotential mit der Forderung nach nationaler Präferenz besser ausgeschöpft werden könnte.

Offenbar befriedigte das Ergebnis des Versuchs nicht, und die dann aus PDS und WASG neu gebildete „Linke“ hatte mit irgendwelchen patriotischen Vorstellungen so wenig im Sinn wie mit Lafontaines Ambition, die „Spaltung“ der Arbeiterbewegung durch die Schaffung eines neuen sozialistisch/sozialdemokratischen Blocks zu überwinden. Irre geworden ist er an seiner Zielsetzung aber nicht, und heute kann er auf die tatkräftige Unterstützung seiner Ehefrau Sahra Wagenknecht setzen, die als Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag über eine noch einflußreichere Position als er selbst in der Partei verfügt.

Wagenknecht ist ohne Zweifel eines der bekanntesten Gesichter der Linken. Allerdings nutzt sie ihr rhetorisches Geschick und ihre Telegenität auch dazu, immer wieder von der Programmlinie abzuweichen. Für sie sind AfD-Wähler keine „Nazis“, sondern Leute, die aus verständlichen Gründen aufs falsche Pferd setzen; für sie mischt sich die Europäische Union zu oft in die inneren Angelegenheiten ihrer Mitglieder ein; für sie ist das Fassungsvermögen Deutschlands im Hinblick auf Zuwanderer erschöpft; für sie gehört Grenzsicherung zu den selbstverständlichen Befugnissen des Staates; für sie gibt es eine überlieferungswürdige deutsche Kultur. Das alles hört man auf der Linken mit Unbehagen, und der letzte Parteitag hat Wagenknecht denn auch demonstrativ die Gefolgschaft verweigert.

Was ihre Entschlossenheit aber eher gestärkt haben dürfte, sich eine breitere und möglicherweise eine andere Machtbasis zu verschaffen. Die von ihr ins Leben gerufene Aktion „Aufstehen“ war zwar wochenlang nur ein Gerücht, tritt jetzt aber Schritt für Schritt an die Öffentlichkeit. Was das Programm angeht, ist man allerdings auf Mutmaßungen angewiesen. Die Videoschnipsel mit den Stellungnahmen der Putzfrau, des Pastors, der Journalistin samt Migrationshintergrund und der Tierschützerin auf der Netzseite www.aufstehen.de sind etwa so aussagekräftig wie die Formel „Es darf nicht mehr an den Interessen und Bedürfnissen der Mehrheit vorbei regiert werden.“

Daß die Führung der Linken trotzdem beunruhigt ist und sich von „Aufstehen“ distanziert, hat ganz wesentlich mit der Sorge zu tun, daß neben der Partei, aber doch mit ihr verknüpft, eine unkontrollierbare politische Größe entstehen könnte, die bei einer losen Organisation der Einzelgänger auf Dauer nicht stehenbleiben kann.

Irgendwann muß Wagenknecht entscheiden, wer in der „Sammlungsbewegung“ gesammelt werden soll und zu welchem Zweck. Der kann eigentlich nur darin bestehen, eine neue Partei zu schaffen, die das politische Endziel ihres Ehemanns Lafontaine verwirklichen würde: eine Dauervolksfront aus SPD und Linken und all denjenigen, die noch abseitsstehen.

Das wäre im besten Fall eine spannungsreiche Einheit, gar nicht zu reden von den Fliehkräften, die aufträten, sollte Wagenknecht mit einem „Sozialismus in den Farben der BRD“ der AfD Konkurrenz machen wollen. Es würde auch nicht reichen, „Aufstehen“ am Muster anderer linkspopulistischer Gruppierungen auszurichten. Eine Kurskorrektur, wie sie Jeremy Corbyn der Labour Party verordnet hat, genügte genausowenig wie eine Kopie von Podemos (Spanien) oder Cinque Stelle (Italien), die alle erst nach dem Kollaps der Traditionsparteien angetreten sind und deshalb ein Programmpotpourri anbieten konnten.

Im Grunde gibt es bisher nur einen Versuch, der dem ähnelt, was Wagenknecht vorhat: die Bewegung „La France insoumise“, die Jean-Luc Mélenchon im Vorfeld der Präsidentschaftswahl 2017 gegründet hat. Mélenchons Agitation mit ihren scharfen antikapitalistischen, antiamerikanischen, antieuropäischen (und fallweise antideutschen) Tönen ähnelt der des Gespanns Lafontaine/Wagenknecht. Aber er kann damit auch an Traditionen eines nationalen Jakobinismus anknüpfen, die in Frankreich nie erloschen waren. Dasselbe wird man für „Aufstehen“ nicht sagen können. Und so sehr das Feuilleton mit dem Neuling sympathisiert und so erleichtert das Aufatmen vieler wirkt, die glauben, daß die Sozialdemokratie endlich die Ära Nahles und die Mésalliance mit dem Liberalismus hinter sich lassen werde, so gering ist doch die Aussicht auf die Zustimmung der breiten Basis. Und dann ist da auch die bittere Einsicht, daß es selbst Mélenchon unter günstigeren Bedingungen nicht gelang, die kleinen Leute vom Front National zurückzugewinnen.

Alles in allem erscheint „Aufstehen“ bisher nur als Symptom der tiefen Krise, in der die Linke steckt, weder als Ausweg noch als Lösungsansatz.