© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 34/18 / 17. August 2018

Der Flaneur
Bist du nicht?
Paul Leonhard

Jugendliche sitzen gelangweilt auf einer Lieferrampe und beäugen neugierig zwei gleichaltrige Mädchen, die sich ein paar Schritte von ihren Eltern entfernt haben. Im großen Saal rücken die Frauen Kuchen zurecht. Zwei Kaffeemaschinen blubbern. Der Vorteil des zeitigen Erscheinens ist, daß der Jubilar noch Zeit für einen hat. „Mensch, daß du gekommen bist“, ruft er erfreut, umarmt mich, stellt mich, frisch verliebt, seiner neuen Muse vor. Fünf Jahre sind vergangen seit dem letzten großen Fest.

Bekannte und unbekannte Gestalten marschieren auf: Künstler, Musiker und Politiker.

Eine Stunde später hätte ich Schlange stehen müssen. Da sitze ich aber längst bei der zweiten Runde Kuchen und beobachte die Ankommenden, die Mühe haben, sich nach dem Sonnenlicht auf der Straße hier im Halbdunkel zu orientieren. Bekannte und unbekannte Gestalten marschieren auf: Künstler, Musiker, Journalisten, ein paar Abgeordnete. Sogar ein Minister ist gekommen und steht etwas verklemmt in einer Ecke. Vorsichtig tasten die Blicke einander ab: Sind Sie/Bist du nicht...? Gut siehst du aus, sagt man und denkt: Alt sind wir geworden.

Wer Karriere gemacht hat, klagt über die Zwänge und die Unterordnung, die anderen jammern über ungerechte Bezahlung. Der Jubilar hält eine Laudatio auf sein eigenes Leben. Hätten die Politiker ihr Wort gehalten, wäre er mit diesem Geburtstag in Rente gegangen. So aber wird er weiter schreiben müssen. Nicht alle sind darüber glücklich. An meinem Tisch werden Anekdoten aus zurückliegenden Zeiten erzählt. An einige Geschichten kann ich mich erinnern, in einigen komme ich vor. Allerdings habe ich seltsamerweise manches anders in Erinnerung. Aber im Gegensatz zu früher widerspreche ich nicht, sondern lausche schweigend. Ist das schon Altersweisheit? Ein Ministeriumsmitarbeiter nennt genüßlich eine Zahl. So viele Tage seien es noch bis zu seiner Pensionierung. Aber er gehe jeden Tag gern zur Arbeit, was doch heute schon ein Alleinstellungsmerkmal sei. Er grinst über das Bonmot.