© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 34/18 / 17. August 2018

Die Kündigung kam überraschend
Stadtgestaltung: Ein fast hundertfünfzig Jahre altes Fackwerkhaus in Berlin ist vom Abriß bedroht
Martina Meckelein

Dies ist die Geschichte eines kleinen Häuschens. Es ist die Geschichte kleiner Leute. Es scheint allerdings genauso die Geschichte einer behördlichen Doppelzüngigkeit und eines kulturhistorischen und architektonischen Aderlasses.

„Das ist doch gar kein echtes Fachwerk“, sagt der Mann mit den gelben Zähnen und den schütteren Haaren. Mit der flachen Hand schlägt er gegen die ehemals weiß getünchte Hauswand, die in all den Jahren durch die Abgase gelblich-grau geworden ist. „Steinwände“, sagt er. „Das ist nur Plunder, ich kenn mich da aus, bin vom Fach.“

So weit kann es mit dem Fachwissen des Stammgastes aus der Eckkneipe „Zur Traube“ in Berlin-Spandau nicht her sein. Denn es handelt sich sehr wohl um ein Fachwerkhaus. Und um ein seltenes dazu. Es ist ein sogenanntes Rayonhaus. Nun droht ihm der Abriß. Bis zum 30. September sollen alle Mieter ausgezogen sein.

„Die Kündigung kam völlig überraschend“, sagt Maria Reese. Sie ist Mitarbeiterin in der Eckkneipe. Direkt darüber wohnt sie mit ihren Kindern. Eine Schweizer Immobiliengesellschaft hat das Gebäude gekauft. Die Eckkneipe, ein Friseurladen, ein alteingesessenes Zigarrengeschäft, ein Atelier, das ehemals die Zigarrenfabrik selbst war, und zwei Garagen sollen geschleift werden. Angeblich, nichts Genaues weiß man nicht, soll ein riesiger Wohnblock errichtet werden. Dabei hätte ein einfacher Anruf bei dem neuen Eigentümer Aufklärung gebracht.

Bau gehört zur Militärstadt Spandau

„Geplant ist unsererseits ein vierstöckiges Gebäude“, sagt Harry Hohhoff, Sprecher von Corpus Sireo, einer hundertprozentigen Tochter des Schweizer Immobilienkonzerns Swiss Life Real Estate, dem neuen Eigentümer. „Das Erdgeschoß soll drei Gewerbeeinheiten beinhalten, also genauso wie im alten Ensemble. Dazu sollen nach aktuellem Planungsstand 22 Wohnungen entstehen, davon mindestens fünf gefördert werden, also knapp 30 Prozent Sozialer Wohnungsbau. Das sind keine Luxuswohnungen, intern nennen wir diese Ausstattung ‘preisgünstiger mittlerer Standard’. Wir werden die Wohnungen auch nicht verkaufen, sondern behalten sie in unserem Bestand.“

Jetzt, vielleicht viel zu spät, regt sich dagegen Widerstand im Wilhelmskiez. „Die ‘Traube’ gehört doch hier in die Pichelsdorfer Straße“, sagt eine Anwohnerin, die ebenfalls Stammkundin in dem Lokal ist. „Das ist so eine Art sozialer Treffpunkt.“ Angesichts der Tatsache, daß es in diesem Teil der Spandauer Wilhelmstadt an fast jeder Ecke eine Kneipe gibt, scheint ihre Argumentation eher der Treue zur Stammkneipe geschuldet. Von Korruption und Mietwucher ist die Rede. „Wer kann denn zwölf Euro kalt zahlen – und soviel werden die doch sicherlich verlangen“, sagt eine Frau. Die Argumente der Leute, die sich am 26. Juli in der „Traube“ einfinden, um sich auf einer Veranstaltung der Wählerinitiative soziales Spandau (WiSS) über den Sachstand zum bevorstehenden Abriß zu informieren, sind nicht unbedingt als schlagkräftig zu bezeichnen.

Die „Traube“ ist einigen Spandauern ein Dorn im Auge. Genauer gesagt, scheinen die Gäste zu stören. Auf der Facebook-Seite „Kiez Wilhelmstadt“, die unter anderem auf die Abrißpläne aufmerksam machte, ist in den Kommentaren von „Pennern“ die Rede.

Nur, muß man gleich ein ganzes Haus abreißen?

Das kleine, heruntergekommene zweistöckige Häuschen mit den schwarzen Holzbalken und dem schmutzigen verputzten Mauerwerk gehört zu den letzten noch vorhandenen Bauten der Militärstadt Spandau. Die Stadt war, bis 1903 der Status aufgehoben wurde, eine Festung. „Als Rayon wird das die Festungsanlagen weiträumig umgebende Gelände bezeichnet“, erklärt Christina Czymay, Baudenkmal-Inventarisatorin im Landesdenkmalamt Berlin, gegenüber der JUNGEN FREIHEIT. „Dessen Benutzung unterlag im 19. Jahrhundert einer strengen militärbehördlichen Genehmigung.“ Zweck war, ein klares Schußfeld zu erhalten und dem Angreifer es unmöglich zu machen, sich Deckung zu verschaffen. Es gab drei Rayons mit besonderen Bebauungsvorschriften. Das Haus in der Pichelsdorfer Straße 89 stand im zweiten Rayon. Die Wände mußten entweder aus einer leicht zerstörbaren Eisenkonstruktion oder in ausgemauertem Fachwerk von nicht mehr als 15 Zentimeter Stärke erbaut sein. Das Haus durfte nicht höher als 13 Meter sein, und der Keller durfte nur eine Decke aus hölzernen oder leichten eisernen Balken haben. Nachzulesen ist das im „Gesetz, betreffend die Beschränkungen des Grundeigenthums in der Umgebung von Festungen“ vom 21. Dezember 1871.

Und genau so, wie in den Vorgaben zu lesen, sieht es noch heute in der „Traube“ aus. Wände, so breit wie ein Balken. Holzfußböden. Die Treppenstufen, einfache Holzbretter, sind ausgetreten und wackelig. Der Kellerfußboden besteht aus Ziegeln. Uralte Rohre liegen offen. Das Treppenhaus ist eng. Der Dachboden scheint dagegen wie neu. Schimmel ist weder ruch- noch sichtbar, er scheint staubtrocken. Die Balkenkonstruktion wird von Holzdübeln zusammengehalten. Die kleinen Fensterchen sind heil, die Rahmen nicht verzogen.

Zigarrengeschäft ist ein echter Kieztreff

Wie viele dieser Häuser es in Spandau gab, ist nicht mehr zu ermitteln, so das Landesdenkmalamt. „Sieben Rayonhäuser wurden in den 1950er und sechziger Jahren abgebrochen“, so Christina Czymay. „Derzeit sind neun Fachwerkbauten bekannt, die die Merkmale eines Rayonhauses aufweisen. Fünf dieser Gebäude sind denkmalgeschützt.“

Erbaut hat es ein gewisser Hermann Lüdicke um 1870. Er, sein Sohn Otto, sein Enkelsohn Hermann und sein Urenkel Manfred blicken immer noch im Zigarrenladen von Andreas Wagner aus einem alten Foto den Kunden streng an. „Die bleiben bis zum Schluß hängen“, schmunzelt Wagner. Er hat den Laden zum 1. Juni 2001 gemietet. „Ich suchte keinen Kiosk, sondern ein richtiges Zigarrengeschäft. Zigarren sind meine Leidenschaft.“

Wagner mietete von der letzten Urenkelin des Erbauers und investierte in einen großen begehbaren Humidor und eine besondere Luftheizung. Er bietet Zigarren, Zigaretten, Lotto, Zeitschriften und einen Paketdienst an. Arm und reich gibt sich hier die Klinke in die Hand. Wenn etwas in der Pichelsdorfer wirklich ein Kieztreff ist – dann ist es Zigarren-Lüdicke. Die Türschelle bimmelt. Ein hochgewachsener Mittvierziger tritt ein. „Tag, Herr Schneider“, begrüßt ihn Wagner. „Mann, der Chef bedient persönlich“, lacht der Angesprochene. „Eine Stange Marlboro Gold.“ Wieder ein Bimmeln. „Tachjen, wie geht es?“ fragt ein neuer Kunde. Die Frage des Kunden ist nicht dahergesagt. Im Februar 2017 wurde bei Wagner Darmkrebs diagnostiziert. „Deswegen hatte ich in den Monaten darauf Interessenten gesucht, die den Laden übernehmen. Und mich gewundert, daß die nur noch Jahresverträge angeboten bekamen.“ Wagner erhielt am 18. Februar 2018 die Kündigung. Am 2. März wurde er 60 Jahre alt. „Ich bat die Immobiliengesellschaft um einen Aufschub der Kündigung bis Ende 2018. Doch nach vier Wochen bekam ich die Absage.“

Wagner spitzte eine Journalistin des Wochenblattes Spandau heute an. „Politik und Verwaltung hüllten sich in Schweigen. Die Journalistin schrieb einen Artikel“, sagt Wagner. „Dann war klar, Abriß. Es gab die tollsten Gerüchte von Abfindungen. Von Korruption. Alles Quatsch.“

„Viele im Kiez waren einfach erstaunt“, sagt ein ehemaliger Gast der „Traube“. „Denn für uns stand es immer außer Frage, daß die ‘Traube’ unter Denkmalschutz steht. Mit der Begründung hatte der Wirt nämlich über Jahre eine Renovierung der Toiletten abgelehnt.“

Entscheidung des Landesdenkmalamtes

Was genau zwischen Februar und Juli hinter den Kulissen der Politik und Verwaltung passierte ist nicht klar. Am 4. Juni stellte die SPD eine Anfrage an das Bezirksamt zum Fall „Traube“ hinsichtlich des Denkmalschutzes. Und ein ehemaliger Piraten-Politiker nahm sich des Themas an. Er postete auf Facebook über den bevorstehenden Abriß, forderte bürgerschaftliches Engagement. Das Treffen in der „Traube“ wurde organisiert, der Rundfunk Berlin-Brandenburg berichtete. Und dann, ganz plötzlich, die Entscheidung des Landesdenkmalamtes: Denkmalschutz für die „Traube“. „Das Außergewöhnliche an diesem Haus ist seine Originalität“, erklärt jetzt Czymay. Und nicht nur das: Auch der Zigarettenladen und die alte Zigarrenfabrik stehen unter Denkmalschutz.

„Für uns kommt die Entscheidung des Denkmalschutzamtes überraschend“, sagt Corpus-Sireo-Sprecher Harry Hohhoff. „Hinweise darauf, daß das Haus unter Denkmalschutz gestellt werden könnte, hat es nicht gegeben.“

Das wiederum verwundert. Sollte der Bezirk der Immobiliengesellschaft die Genehmigung zum Abriß signalisiert haben, läßt ein Satz aus der Stellungnahme des Landesdenkmalamtes gegenüber der jungen freiheit aufhorchen. Auf die Frage: „Wann wurde das aktuelle Verfahren eingeleitet und von wem?“ antwortete das Landesdenkmalamt: „Die Unterschutzstellung geht auf einen aktuellen Prüfwunsch des Bezirks-

amtes Spandau zurück.“

Wußte hier ein Teil des Amtes nicht, was der andere getan hatte? Hohhoff sagt: „Keiner wird anfangen, Kosten zu produzieren, indem er eine Immobilie kauft, Architekten mit der Planung eines Neubaus beauftragt, wenn eine solche offene Flanke besteht. Im Gegenteil, es gab im Vorfeld der Planungen viele Gespräche mit dem Bezirk. Er unterstützt dort einen Neubau, vor allem vor dem Hintergrund, daß es sich bei der Lage des Gebäudes in der Wilhelmstadt um ein Sanierungsgebiet handelt.“

Und wie geht es weiter? Hohhoff: „Innerhalb der nächsten 14 Tage wird es zwischen dem Bezirk und uns Gespräche zum Sachverhalt geben.“

Sicher ist: Das Haus wird leergezogen. „Für mich kommt diese Entscheidung vier Monate zu spät“, sagt Wagner. „Ich habe 21 Verträge gekündigt und schon alles verkauft – auch den Humidor.“