© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 34/18 / 17. August 2018

„Das sind keine ‘Peanuts’“
Kindergeld: Die Überweisungen in EU-Staaten sind auf Rekordniveau / AfD fordert Anpassung an die Lebenshaltungskosten vor Ort
Christian Vollradt

Für das Bundesfinanzministerium ist es eine nüchterne Tatsache: „Im Juni 2018 wurde für 268.336 Kinder, die außerhalb von Deutschland in der Europäischen Union (EU) oder im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) leben, Kindergeld gezahlt“, teilte ein Sprecher von Olaf Scholz (SPD) mit. Dessen Parteifreund Sören Link, Oberbürgermeister von Duisburg, sieht das deutlich weniger gelassen; „Die Bundesregierung verschläft dieses Problem, sie muß endlich etwas dagegen tun, daß es Armutsflüchtlinge in Europa gibt.“ 

EU-Kommissarin gegen    Änderung der Rechtslage

Das sozialdemokratische Stadtoberhaupt der Ruhrgebietsmetropole warnte nun gemeinsam mit Kollegen vor einer gezielten Einwanderung in die Sozialsysteme: „Wir haben derzeit rund 19.000 Menschen aus Rumänien und Bulgarien in Duisburg, Sinti und Roma. Vor knapp sechs Jahren, 2012, hatten wir erst 6.000 in Duisburg.“ 

Link machte Schlepper für diese Situation verantwortlich. Sie würden diese Leute gezielt aus ihrer osteuropäischen Heimat nach Duisburg bringen. Dort mieteten sie heruntergekommene Wohnungen, damit sie einen Wohnsitz zum Bezug des Kindergeldes angeben könnten. Der Deutsche Städtetag plädiert vor dem Hintergrund der neuen Rekordzahlen für eine Reform des Zahlungssystems. Hauptgeschäftsführer Helmut Dedy fordert, daß sich das Kindergeld an dem Lebensniveau der Länder orientieren sollte, in denen die Kinder lebten – im Fachjargon: Indexierung. 

Die Idee ist nicht neu (JF 10/18 und 14/18). Genausowenig wie das, was ihre Umsetzung verhindert: Ein nationaler Alleingang sei wegen des EU-Rechts nicht möglich, behauptet die Bundesregierung, es bedürfe einer europäischen Lösung. Die zuständige Brüsseler Kommissarin Marianne Thyssen und zwölf Mitgliedsstaaten lehnen jedoch eine Änderung der derzeitigen Regelung ab. 

Ende Juni wagte die AfD im Bundestag einen Vorstoß in Richtung nationalem Alleingang. Ihr Sozialexperte René Springer (siehe untenstehendes Interview) leitete seine Rede mit einer Zustandsbeschreibung ein: „In manchen Großstädten gibt es ganze Straßenzüge mit Schrottimmobilien, in denen Migranten nur aus einem Grund wohnen: Weil sie für ihre Kinder, die gar nicht in Deutschland leben, Kindergeld auf deutschem Niveau beziehen.“ 

Der Widerspruch von links folgte umgehend, „Unsinn“, rief der Grüne Wolfgang Strengmann-Kuhn dazwischen. Doch der Satz stammte gar nicht von AfD-Mann Springer. Er hatte nur zitiert, was Sigmar Gabriel (SPD) bereits 2016 als Mißstand gegeißelt – aber nicht behoben hatte. 




Herr Springer, schon vor einigen Monaten forderten Sie gemeinsam mit der familienpolitischen Sprecherin Ihrer Fraktion, Mariana Harder-Kühnel, eine Indexierung des Kindergelds, also eine Angleichung an die Lebenshaltungskosten des jeweiligen Landes. Als die AfD Ende Juni einen entsprechenden Antrag in den Bundestag einbrachte, schlug Ihnen einhellige Ablehnung entgegen. Sehen Sie sich nun durch die aktuelle Debatte bestätigt?

René Springer: Natürlich fühlen wir uns bestätigt in unserer Position – allerdings nicht erst jetzt. Die Indexierung war ja bereits 2016 Thema. Anfang 2017 wurde im Kabinett sogar ein entsprechender Gesetzentwurf beraten, der seitdem aber in einer Schublade der Bundesregierung versauert.

Wieso?

Springer: Weil man der Meinung war, man könne das nicht auf nationaler Ebene lösen, es brauche zuvor eine Änderung des EU-Rechts. Der damalige Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) wollte das durchziehen, scheiterte aber am Einspruch seiner Kabinettskollegen. Gabriels Ministerium hatte das rechtlich geprüft und festgestellt, es sei zulässig, das Kindergeld zu indexieren. Doch im Finanzministerium von Wolfgang Schäuble war man der gegenteiligen Auffassung. Auch die damalige Familienministerin Andrea Nahles (SPD) sagte nein zu Gabriels Plan. Der Bundesregierung fehlte halt der politische Wille.

Woran lag das Ihrer Meinung?

Springer: Sowohl für die Union als auch für die SPD ist Brüssel quasi heilig – unsere nationalen politischen Interessen haben sich dem unterzuordnen. Das führt dann so weit, daß Berlin nicht mehr entscheiden können soll, wer welche Sozial- oder Familienleistungen bekommt. Da haben wir eine völlig andere Auffassung.

Nämlich?

Springer: Das Beispiel Österreich zeigt doch, daß man hier auch einen anderen Weg wählen kann. Dort hat das Kabinett im Mai eine entsprechende Gesetzesänderung auf nationaler Ebene verabschiedet, die eine Indexierung des Kindergelds ermöglicht. Bei uns wird das seit 2016 in der Großen Koalition diskutiert. Jetzt haben wir 2018. Da verwundert es keinen mehr, daß Menschen von Parteien und Demokratie frustriert sind, wenn Entscheidungsprozesse sich so lange hinziehen – in einer Sache, die eigentlich glasklar ist. 

Nun erscheint eine europäische Lösung gerade nicht aussichtsreich, da es EU-Mitgliedsstaaten gibt, die von der aktuellen Regelung profitieren. Geht es also gar nicht anders als national?

Springer: Eben. Ich sehe da auch gar keinen anderen Weg. Der gesellschaftliche Druck wird größer, weil niemand verstehen kann, warum das Kindergeld nicht an die jeweiligen Lebenshaltungskosten angepaßt wird. Wie es die EU-Kommission bei den Kinderzuschlägen und Bezügen ihrer Beamten ja interessanterweise auch tut. Die jetzt veröffentlichten Zahlen belegen, daß wir uns langsam zur Familienkasse Europas entwickeln – und das darf nicht sein. 

Ihr Antrag liegt jetzt in den Ausschüssen. Sehen Sie Möglichkeiten, dort Mehrheiten für eine Indexierung zu organisieren?

Springer: Zunächst würden wir es als AfD-Fraktion begrüßen, wenn wir im Bundestag für unser Anliegen Unterstützung erhielten, egal aus welchem politischen Lager. Natürlich sind die Zweifel berechtigt, daß wir eine Mehrheit organisieren können. Alle starren jetzt auf die EU, in der Hoffnung, Brüssel erteile uns Deutschen den Segen, das Kindergeld zu indexieren. Das aber ist aus meiner Sicht eher unwahrscheinlich. Es gibt auch noch einen zweiten Grund, warum man unserem Antrag nicht zustimmen wird: Denn dann würde man ja zugeben müssen, daß unser Anliegen vernünftig ist. Den Gefallen werden uns die etablierten Parteien aber wohl nicht tun.

Aus der Großen Koalition hört man Widersprüchliches: die Union sagt, wir können das Ganze nur rechtssicher auf europäischer Ebene lösen, aber die Sozialdemokraten torpedieren unsere Vorstöße im EU-Parlament. Die SPD-Fraktionsvorsitzende Andrea Nahles wiederum meinte am Donnerstag vergangener Woche im „Heute Journal“, sie könnte sich aktuell nur einen deutschen Alleingang vorstellen. Schiebt man sich da bloß den Schwarzen Peter zu?

Springer: Sollte Frau Nahles ihre Position in dieser Sache tatsächlich geändert haben, wäre das erfreulich: Dann könnte die SPD eigentlich unserem Antrag zustimmen. Allerdings habe ich eher den Eindruck, daß die Sozialdemokraten versuchen, sich geschickt aus der Affäre zu ziehen, indem sie vor allem den Mißbrauch des Kindergeldanspruchs zum Thema machen. Wir müssen zwei unterschiedliche Probleme trennen: das eine ist das Kindergeld, das aufgrund einer gesetzlichen Grundlage rechtmäßig für Kinder in der EU oder im EWR gezahlt wird. Das andere sind Zahlungen, die aufgrund von Betrug erschlichen werden – für die es also gar keine rechtliche Grundlage gibt. Und für den ersten Fall gilt: die SPD hat diese gesetzliche Grundlage im Jahr 2004 mit geschaffen, als Familienministerin Ulla Schmidt der EU-Verordnung in Brüssel zugestimmt hat. Das war der Ursprungsfehler, dessen Folgen sich bis heute auswirken. Wir wollen diesen Fehler mit unserem Antrag korrigieren. Der andere Teil des Problems, der Mißbrauch von Kindergeld, kann gar nicht so eindeutig quantifiziert werden. Der Chef der Familienkasse Karsten Bunk bezifferte jüngst den Schaden in einer Höhe von rund 100 Millionen Euro – das bezieht sich allerdings auch auf Betrug in Deutschland und nicht allein auf unrechtmäßige Zahlungen ins Ausland. Das muß man voneinander trennen.

Sozialverbände, die Linkspartei oder die Grünen entgegnen, der Anteil der Kindergeldzahlungen ins EU-Ausland oder den EWR sei nur sehr gering, nämlich weniger als ein Prozent – und wiederum nur ein sehr geringer Anteil davon erfolge durch Betrug. Ist das Ganze also nur wieder ein aufgebauschtes Problem?

Springer: Die Bundesregierung selbst spricht von 150 bis 200 Millionen Euro, die durch eine Indexierung des Kindergeldes jährlich eingespart werden könnten. Da ist der Schaden durch Kindergeldbetrug noch außen vor. Diese Zahlen stammen aber noch aus dem vergangenen Jahr. Mit der jüngsten Zunahme der Auslandsüberweisungen wird dieser Anteil auch schon wieder gestiegen sein. Das mögen für die Grünen oder die EU-Sozialkommissarin Marianne Thyssen „Peanuts“ sein – für uns sind das enorme Summen, die den Haushalt belasten und für wichtige politische Aufgaben nicht zur Verfügung stehen. Aus unserer Sicht ist die bestehende Regelung auch das genaue Gegenteil einer fairen Lösung. Es ist eine systematische Diskriminierung deutscher Eltern mit ihren hier lebenden Kindern, gegenüber Eltern, die beispielsweise in Bulgarien und Rumänien wesentlich mehr mit diesen rund 200 Euro Kindergeld anfangen können. 






René Springer ist seit 2017 Abgeordneter des Deutschen Bundestags (AfD). Der 1979 in Berlin (Ost) Geborene diente nach dem Realschulabschluß von 1997 bis 2009 als Zeitsoldat bei der Marine. Nach Ausbildung zum Elektroniker sowie Meister in Elektrotechnik 2004 Abitur am Abendgymnasium; 2014 Magister in Politikwissenschaft. Vor seinem Einzug in den Bundestag war Springer unter anderem Fraktionsgeschäftsführer der AfD im Potsdamer Landtag. Er ist Mitglied im Bundestagsausschuß für Arbeit und Soziales. 

 www.rene-springer.info