© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 34/18 / 17. August 2018

„Das wäre eine Katastrophe“
Kommt die Wehrpflicht zurück? Wird die Bundeswehr zur Söldnertruppe? Warum funktioniert unsere Armee nicht? Fragen an den Schweizer Militärexperten Albert A. Stahel
Moritz Schwarz

Herr Professor Stahel, kommt in Deutschland die Wehrpflicht zurück?

Albert A. Stahel: Sicher nicht so schnell, aber irgendwann wird sich ihre Rückkehr aufdrängen.

Der ehemalige CDU-Verteidigungsminister Volker Rühe sagt, „das würde die Bundeswehr ins Chaos stürzen“. Hat er recht?

Stahel: Nein, denn natürlich kann man umsteuern, wenn man sich Zeit nimmt, dies sorgfältig vorzubereiten und durchzuführen. Ins Chaos führen nur Hauruck-Aktionen, wie vielleicht der Wehrpflicht-Ausstieg der deutschen Regierung im Jahr 2011 quasi „über Nacht“.     

Die Berufssoldaten müßten sich dann auch noch um Wehrpflichtige kümmern – was die Personallage der Truppe nicht entschärfen, sondern verschärfen würde, so Kritiker. 

Stahel: Auch das ist – Pardon – Unsinn, denn auch das ist allein eine Frage der Planung. Zu Beginn würde es wohl so sein, aber dann übernehmen Wehrpflichtige ja auch Aufgaben. Letztendlich bedeutet die Wehrpflicht auch da eine Verbesserung der Situation.

Außer dem Personal ist Geld das Hauptproblem der Bundeswehr. Auch die Wehrpflicht kostet, laut OECD sogar mehr als eine Berufsarmee: Sie würde, laut Kritikern, auch die Finanznot verschärfen.  

Stahel: Hanebüchen! Ich kann Ihnen versichern, daß etwa wir, die Schweiz, bei gleichem Budget, aber ohne Wehrpflicht nur noch ein Drittel unserer Streitkräfte unterhalten könnten, weil Berufssoldaten viel teurer sind.

Warum sieht die OECD das anders?

Stahel: Das weiß ich nicht, vielleicht war das Ergebnis politisch gewünscht? Immerhin stammt die Studie aus einer Zeit, als viele aus der Wehrpflicht rauswollten. Übrigens in der Hoffnung, so auch die Russen dazu zu bringen, auszusteigen.

Während die Debatte über die Wehrpflicht aus der Politik kommt, überlegt man im Berliner Bendlerblock, um der Personalnot zu begegnen, die Bundeswehr für Ausländer zu öffnen. Ist das eine gute Idee? 

Stahel: Es kommt darauf an, was damit gemeint ist. Eine Öffnung für alle? Das wäre eine Katastrophe.

Warum?

Stahel: Weil das die Umwandlung in eine Söldnerarmee bedeuten könnte. 

In Amerika scheint das Modell allerdings zu funktionieren. Die US-Armee bietet jedes Jahr 8.000 Ausländern die Einbürgerung an – gegen fünf Jahre Wehrdienst oder Teilnahme an einem Krieg. Vorausgesetzt man erfüllt auch die sonstigen Anforderungen, wie Sprache, Verfassungseid etc. 

Stahel: Und die Folge ist ein Ausländeranteil von bis zu fünfzig Prozent in manchen Einheiten. Aber Deutschland ist nicht die USA. Dort geht es vor allem um Auslandseinsätze, nicht um Landesverteidigung wie hierzulande.

Warum ist der Unterschied relevant?

Stahel: Der Loyalität von Söldnern kann man sich nie sicher sein. Mit ihnen Krieg im Ausland zu führen ist eine Sache. Aber die eigene Sicherheit würde ich nicht von ihnen abhängig machen.   

Was ist mit der Option, die Truppe nicht für alle, aber für EU-Europäer zu öffnen?

Stahel: Andere Europäer haben das gleiche Problem. Woher also sollten die Rekruten kommen? Deutschland, Schweden, Benelux etc. müßten sich gegenseitig die Soldaten abjagen, zum Schaden des jeweils anderen. Vielleicht gäbe es mehr Bewerber aus EU-Südländern oder Osteuropa. Aber auch das brächte ein Loyalitätsdefizit. Will Deutschland seine Landesverteidigung Rumänen oder Griechen überlassen? Übrigens hätten diese nicht einmal den Antrieb, den die Hispanics der US-Armee haben. Denn als EU-Bürger genießen sie längst das Recht, in Deutschland zu leben und arbeiten. Es gäbe also nichts, was sie im Ernstfall in der Bundeswehr halten würde. Sinnvoll könnte es dagegen sein, einzelne Spezialisten aus dem Ausland anzuwerben, wie das etwa die belgische Armee tut. Da sprechen wir allerdings von geringen Größenordnungen. So betrug der Bestand an Ausländern bei den Belgiern zwölf Jahre nach Einführung der Regelung 2004 lediglich 136 Mann. Das eigentliche Problem, den breiten Personalmangel, löst das nicht.

Immerhin hat das Verteidigungsministerium inzwischen eingeräumt, daß die Soll-Zahl der Bundeswehr mit 170.000 Soldaten insgesamt zu gering ist. 

Stahel: Dabei schafft man es – mit derzeit etwa 168.000 Mann – ja nicht einmal, diese Marke zu erreichen! Doch selbst wenn es Berlin gelänge, die für die nächsten fünf Jahre geplanten 7.000 zusätzlichen Soldaten zu rekrutieren, wäre das immer noch viel zu wenig. Nein, all das zeigt nur, daß man sich um das wahre Problem und die eigentliche Lösunge keine Gedanken mehr macht, sondern versucht, die Mißstände durch Scheinlösungen zu kaschieren. 

Was ist das eigentliche Problem? 

Stahel: Das ist die mangelnde Bereitschaft, als Soldat seinem Staat zu dienen und die wachsende Distanz zwischen Armee und Gesellschaft. Und die einzige Lösung ist eben, wie 2017 in Schweden, die Wehrpflicht wieder einzuführen. 

Aber haben wir das Problem denn wirklich nur dank Abschaffung der Wehrpflicht? 

Stahel: Und der Änderung unserer Armeen seit dem Kalten Krieg. Bis dahin ging es um Landesverteidigung. Dann kam das „Peacekeeping“, die sogenannten Friedenseinsätze. Damit haben wir das Feld der eigentlichen Sicherheitspolitik verlassen; in dem Glauben, Peacekeeping genüge, Sicherheit zu garantieren. 

Warum stimmt das nicht?

Stahel: Warum? Das hat spätestens seit der Krim-Krise 2014 jeder begriffen! Wobei dies schon mit Putins überraschendem Georgienkrieg 2008 hätte dämmern müssen. Damals glaubte man eigentlich nicht, daß Moskau noch zu solchen Interventionen bereit wäre. Spätestens aber ab 2010 war unübersehbar, daß es seine Streitkräfte nach der Georgien-Erfahrung reorganisiert, modernisiert und aufrüstet. Bis 2020 will das russische Heer 2.300 moderne Kampfpanzer in Dienst haben. Heute verfügt Rußland über knapp 2.800 Kampfpanzer, darunter etliche ältere Modelle. 2.300 moderne Kampfpanzer bedeutet also eine qualitative wie quantitative Aufrüstung, da die alten ins Depot kommen – so daß Putin dann einen Bestand von 5.000 Kampfpanzern haben könnte. 

Gegenüber 99 der Bundeswehr. 

Stahel: Die besitzt 236 – aber richtig, nur um die hundert sind auch einsatzfähig. Doch selbst wenn es anders wäre, wäre diese Anzahl nichts. Denn was Deutschland für eine wirksame Abschreckung braucht, sind mindestens ein- bis zweitausend Kampfpanzer. 

Wer sorgt denn derzeit für unsere Sicherheit per Abschreckung, wenn also nicht die Bundeswehr?

Stahel: Die Nato mit ihrer Garantiemacht USA und deren Atomwaffen.

Irrt dann der Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz Wolfgang Ischinger, wenn er sagt, zögen die USA ihre letzten 30.000 Mann hier ab, die sowieso „nicht dem Schutz Deutschlands dienen, sondern US-Missionen in Afrika und Nahost, die US-Verwundete in Landstuhl pflegen, Manöverplätze wie Grafenwöhr unterhalten und so weiter, wäre das für Deutschland sicherheitspolitisch nicht schädlich.“

Stahel: Da irrt er sich sogar gewaltig. Ein Abzug wäre ein deutliches Zeichen dafür, wie „verläßlich“ die USA für ihre Verbündeten tatsächlich noch wären.

Aber ist die Angst vor Trumps sprunghafter Außenpolitik nicht übertrieben? Denn die imperiale „Sicherheitsarchitektur“ der USA, mit ihren Bündnissen und Basen, entfaltet doch per se Wirkung – selbst wenn der Präsident unzuverlässig regiert. 

Stahel: Das stimmt, und die US-Streitkräfte sind eine Art Staat im Staat und sehr gefestigt und sehr „konservativ“. Unterschätzen Sie aber dennoch nicht die Auswirkungen, wenn die westliche Führungsmacht inkompetent regiert wird. Vor allem sollten Sie auf keinen Fall den Fehler machen, zu glauben: Wir konnten uns seit 1945 auf die USA verlassen – also können wir das auch in Zukunft! Das ist keineswegs sicher, denn seit Jahren beobachten wir die Entfremdung Amerikas von Europa. Die Zeiten, in denen die Amerikaner wußten, daß  ihre Wurzeln in der alten Welt liegen, ihre Vorfahren Briten, Deutsche, Italiener oder Franzosen waren, sind vorbei.

Aber wäre es nicht positiv, würde dieser Wandel oder Trumps Politik uns zwingen, selbst Verantwortung zu übernehmen?

Stahel: Natürlich, aber das bedeutet erhebliche Investitionen. Und zwar nicht nur die sechs bis zwölf Milliarden Euro mehr, über die der Bundestag derzeit streitet, sondern so gewaltig, daß es Ihren Politikern und Steuerzahlern wohl regelrecht schlecht werden würde.

Sie meinen die achtzig Milliarden gemäß dem Zwei-Prozent-Ziel der Nato, wonach zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in die Verteidigung zu investieren sind? 

Stahel: Das wäre genau mein Rat. Aber  ich frage Sie, wäre Berlin dazu bereit? Angesichts dessen, daß der deutsche Verteidigungshaushalt 2018 nur 38 Milliarden Euro beträgt, der komplette Bundeshaushalt 343 Milliarden.

Sie meinen, es wäre denkbar, daß Berlin – vielleicht sogar bei einem US-Abzug – im Grunde gar nicht reagiert?

Stahel: Eben das ist die Frage. Für ausgeschlossen halte ich das nicht.

Die Überlegung wäre: Wenn wir unsere Friedfertigkeit zeigen, hat die andere Seite keinen Grund, sich provoziert zu fühlen. Kann das nicht funktionieren?

Stahel: Natürlich „kann“ es das – es können ja auch Wunder geschehen. Amen in der Kirche! Ich glaube es aber nicht. Für mich hört sich das nach Selbstmord an: Sehend in die Katastrophe. 

Aber ist Rußland tatsächlich so gefährlich, fallen wir da nicht auf dessen Dämonisierung durch die Atlantiker herein?

Stahel: Rußland hat außer Erdgas nicht viel und lebt daher politisch zu einem Gutteil von der Angst vor der Stärke seiner Militärmacht. Das ist, egal ob Zar, KP oder Putin, quasi russische Tradition.

Allerdings sind Georgien oder die Ukraine nicht Mitteleuropa. Ist eine russische Invasion Deutschlands wirklich vorstellbar? 

Stahel: Fast ein Vierteljahrhundert lang konnten wir uns auch nicht vorstellen, daß der Kreml die Krim annektiert. Grundsätzlich ist alles möglich. „Wir leben wieder in einer gefährlichen Welt“, hat der ehemalige US-Sicherheitsberater Henry Kissinger unlängst in einem Interview gesagt. Und was Rußland angeht – es geht so weit, wie man es gehen läßt. Würde der Westen signalisieren, daß er nicht reagiert, würde Moskau etwa die baltischen Staaten erneut annektieren – würde Putin sie sich nehmen. Er tut das nur deshalb nicht, weil es eine schwere Krise heraufbeschwören würde. 

Das reine Erobern von Provinzen ist doch längst nicht mehr lukrativ. Welchen Nutzen hätte Rußland unterm Strich davon?  

Stahel: Genau das haben auch etliche US-Experten vor 2014 über die Krim und die Ukraine gesagt. Diese zu besetzen sei doch „old fashioned“, so was sei passé. Ja, aus der Sicht des Weißen Hauses! Aber eben nicht aus der Sicht des Kremls. Und auch Peking etwa denkt da ähnlich. Wir glauben, nur weil wir etwas für aus der Mode gekommen halten, müßten andere Völker und Kulturen das auch so sehen. Irrtum. 

Sie warnen allerdings, selbst Waffen und Wehrpflicht helfen nicht. 

Stahel: Das Problem ist, daß es Jahre dauert, bis man einmal aufgegebene militärische Fähigkeiten wiedererlangt. Man kann so etwas nicht einfach beschließen und gut. Bis eine neue Truppe aufgestellt, ausgerüstet und trainiert, bis sie wirklich einsatzbereit ist, vergeht unter Umständen bis zu einem Jahrzehnt. Selbst wenn also die Bundesregierung jetzt die richtigen Entscheidungen träfe, verharrt Deutschland unabwendbar für einige Zeit in einer Sicherheitslücke – Folge der leichtsinnigen, ja eigentlich unverantwortlichen Abrüstungspolitik. 

Warum hat sich die eigentlich durchgesetzt, schließlich gab es von Beginn an Warner. 

Stahel: Richtig, nur waren das die sprichwörtlichen Rufer in der Wüste. Viele wollten diese auch nicht hören, zu verlockend war es, in den Chor der Naiven einzustimmen. Abrüstung war damals sehr populär und machte überdies Geld frei – Stichwort Friedensdividende – für Wahlgeschenke, mit denen Politiker sich beliebt machen konnten. Wer dagegen den Sirenenklängen der Friedensapostel zu widersprechen wagte, machte sich unbeliebt, wurde als unbelehrbarer Kalter Krieger hingestellt. Da wagten viele einfach nicht zu widersprechen. Zu groß waren Angst, Anpassung und Bequemlichkeit im Denken.

Wußten Politiker und Militärs nicht, was auf dem Spiel steht?

Stahel: Natürlich wußten sie das. Das ist der reine Opportunismus. Ihre Kanzlerin formuliert ja lieber, man rüste die Bundeswehr „aus“, nicht „auf“. Da sehen Sie, wie man nicht willens ist, zu sagen, was das Gebot der Stunde ist. Und die Militärs? Die sind es gewöhnt, vor der Politik den Kotau zu machen. 

Inwiefern?

Stahel: Grundsätzlich stellt man auch bei Ihnen in Deutschland die Frage nach der Wehrpflicht einfach nicht von der richtigen Seite. Einerseits sind da Putin und Trump – beide drohen, jeder auf seine Weise –, andererseits ist da eine desolate Bundeswehr. Die richtige Frage wäre: Was brauchen wir in dieser Lage? Und nicht: Ist das nicht zu teuer? Zu kompliziert? Innenpolitisch inopportun? Wenn Sie weiter so fragen, wird Deutschland nie zu einer eigenständigen, funktionierenden Verteidigung kommen.  

Müßte Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen also zurücktreten?

Stahel: Nein, die Kanzlerin. Aber ihr das zu sagen ist nicht meine, sondern Ihre Aufgabe. Ich bin kein Deutscher, ich habe da keine Forderungen. Ich habe da nur eine Meinung als Experte. 

Warum nicht die Verteidigungsministerin?

Stahel: Weil der Regierungschef verantwortlich für die Politik ist. Ein Minister ist doch sozusagen nur ein Pudel.

Frau von der Leyen hat sich intensiv der gesellschaftlichen „Aufrüstung“ der Bundeswehr gewidmet – Stichworte: Gender, Inklusion, Diversität, Schwangere. 

Stahel: Das können Sie ihr freilich vorwerfen. Denn ihre Hauptaufgabe ist es, für funktionierende Panzer und Flugzeuge zu sorgen, nicht für Umstandsmode.

Immerhin will sie damit ja dem Personalproblem entgegenwirken: Frauen, Transsexuelle, Unterqualifizierte und Behinderte – auf die die Maßnahmen erklärtermaßen abzielen – könnten doch, zusammen mit Ausländern, die Reihen wieder füllen. 

Stahel: Ich bitte Sie! Vorhin schon sprach ich von Scheinlösungen. Auch in Zeiten technisierter Armeen findet man den Typus des Soldaten, mit dem man Konflikte besteht, eher nicht in diesen Gruppen. Der Sieger in der Schlacht trägt bestimmt kein Umstandskleid. 

Ist das neue „bunte“ Image der Bundeswehr also vielleicht gar ein Nachteil?

Stahel: Das glaube ich! Auf viele, die eigentlich Zielgruppe der Bundeswehr sein müßten, wirkt das lächerlich – wie ein Kasperletheater. Das gibt ihrem – bereits durch die nicht endenden Meldungen von Flugzeugen, die nicht fliegen, Schiffen, die nicht einsatzfähig sind und Panzern, die nicht rollen – lädierten Image, wohl den Rest.







Prof. Dr. Albert A. Stahel, ist Leiter des Instituts für Strategische Studien in Wädenswil/Schweiz. Zuvor war er Dozent für das Thema an der Universität Zürich und an der Militärakademie der ETH Zürich. Zudem leitete der Politologe und ehemalige Oberstleutnant sechs Jahre die Forschungsstelle für sicherheitspolitische Grundlagenstudien an der Zentralstelle für Gesamtverteidigung in Bern. Stahel, geboren 1943 in Zürich, ist Mitglied des International Institute for Strategic Studies in London. 

Foto: Bundeswehrsoldat bei einer Übung: „In Deutschland wird die Frage nach der Verteidigung falsch gestellt. Nämlich: Ist das nicht zu teuer? Dabei müßte sie lauten: Was brauchen wir?“

 

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