© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/18 / 10. August 2018

Böcke werden zu Gärtnern
Wikipedia: Immer wieder fällt die Online-Enzyklopädie mit tendenziösen Artikeln auf
Henning Lindhoff

Die Online-Enzyklopädie Wikipedia sieht sich einem wachsenden Problemberg gegenüber. Seit zehn Jahren sinkt die Zahl der Menschen, die sich aktiv am Lexikon beteiligen, Artikel schreiben, diskutieren und bearbeiten. Zur Zeit sind es weltweit nur noch rund 20.000 Autoren, die mindestens einmal pro Monat Beiträge liefern. Das schwindende Engagement ist eine große Gefahr für die einstmals gerühmte Lebendigkeit und Vielfalt der Wikipedia – und für die Qualität ihrer Artikel. 

Spätestens mit dem Film „Die dunkle Seite der Wikipedia“, für den Markus Fiedler und Frank-Michael Speer minutiös innerhalb der Wikipedia recherchiert hatten, hat die Diskussion um die Vertrauenswürdigkeit der Online-Enzyklopädie auch Deutschland erreicht.

Auch hierzulande scheinen sich Ideologen das Ziel gesetzt zu haben, unliebsame Pressorgane, Journalisten und Wissenschaftler zu diskreditieren. Die undurchsichtigen Relevanzkriterien geben den Administratoren freie Hand, Editier- und Löschdiskussionen zu einzelnen Artikeln nachhaltig zu beeinflussen. Wikipedia wird auf diesem Weg mehr und mehr zu einer geschlossenen Gesellschaft. 

Abgekapselte Filterblase vernetzter Gutmenschen

Da vor allem solche „Wikipedianer“, die die meisten Bearbeitungen vorweisen können, die Administratoren wählen, die dann wiederum als Schiedsrichter in den „Edit Wars“ auftreten, ist eine Filterblase entstanden. Sie will vor allem über Einträge bestimmen, bei denen es um innen- und außenpolitisch wichtige Themen geht. Autorenpseudonyme wie „Finn“, „Schwarze Feder“ oder „SanFran Farmer“ sind der Regelfall in der Wikipedia. Kaum ein Vielschreiber nimmt die Maske vom Gesicht. Doch die Aussteiger werden zahlreicher. Die Filterblase, der sie desillusioniert den Rücken kehren, wurde in den vergangenen Jahren nahezu undurchdringlich. Ein jüngstes Opfer ist der Filmemacher Dirk Pohlmann, der seit den späten 1990er Jahren mit Dokumentarfilmen über den Kalten Krieg für Aufsehen sorgt. Mit Wikipedia-Aufklärer Fiedler berichtet er seit diesem Jahr regelmäßig kritisch auf Youtube über „Neues aus Wikihausen“.

Kaum vier Tage nachdem sie über Ex-Stasi-IM „Viktoria“ Anetta Kahane und deren Verbindung zu Heiko Maas berichtet hatten, wurde auch Pohlmanns Eintrag bearbeitet – nicht zum Besseren.

Auch die von Pohlmann kritisierte Anetta Kahane hat natürlich einen eigenen Wikipedia-Artikel, fleißig bearbeitet vor allem von einem Autor namens „Kopilot“ – nicht zu Kahanes Nachteil. Im ersten Absatz des Textes steht beispielsweise nichts über ihre IM-Tätigkeit, obwohl ihre Stasi-Akte umfangreich ist und ihre Amadeu-Antonio-Stiftung die Bundesregierung in Sachen Löschen von „Fake News“ und „Hate Speech“ im Internet berät.

Autor „Kopilot“ nannte sich bis März 2011 noch „Jesusfreund“. Und unter diesem Namen hatte er auch den Wikipedia-Artikel zur JUNGEN FREIHEIT maßgeblich mitgeschrieben. Insgesamt 26,6 Prozent dieses Artikels gehen auf sein Konto. Insbesondere war es „Jesusfreund“ daran gelegen, kritische Stimmen zur JF zu sammeln. Unter anderem sorgte er dafür, daß die Einschätzungen von Armin Pfahl-Traughber, Helmut Kellershohn und Uwe Backes Eingang fanden. Auch auf den Begriff „neurechts“ legte „Jesusfreund“ wert. Eine Textanalyse mit dem Werkzeug „WhoColor“ legt diese Details offen.

„In meiner Studienzeit habe ich mich in der Friedensbewegung, bei Graswurzlern, Hausbesetzern und Anarchosyndikalisten rumgetrieben. Einige halten mich für einen unverbesserlichen linksradikalen ‘Gutmenschen’. Was immer das sein soll. Meinetwegen, ich bin ich!“ Mit diesen Sätzen beschrieb sich „Jesusfreund“ alias „Kopilot“ auf seiner eigenen Benutzerseite in der Wikipedia. Und er ist fleißig. „Kopilot“ editierte in den vergangenen 365 Tagen mehr als 8.600 Artikel –  im Schnitt 31 Einträge pro Tag. Doch er ist nicht der einzige. Insgesamt seien es etwa 200 Personen, die die deutsche Wikipedia in die gewünschte Form bringen, so Markus Fiedler. „Zu dieser Truppe würde ich beispielsweise zählen: JosFritz, Karl V, Kopilot, Phi, Schwarze Feder und Feliks. Wenn man jemanden von diesen Leuten in der Versionshistorie sieht, dann kann man den Artikel von vornherein auf Ablage P schieben.“

Politisch engagierte Vielschreiber agieren dabei – dank ihrer guten Verbindungen zu Administratoren – als Staatsanwalt, Verteidiger, Gutachter und Richter. Dies ist kein bedauerlicher Fehler, das hat System. Es existiert keine unabhängige Instanz außerhalb der Wikipedia-Filterblase, an die sich ebenfalls engagierte aber weniger gut vernetzte Autoren wenden könnten. In Zukunft soll der Status der Wikipedia als „Wahrheitsstandard“ weiter gefestigt werden – zwecks Abgleich von „Fake News“ auf Youtube, Facebook und anderen Medien. Böcke werden zu Gärtnern.