© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/18 / 10. August 2018

Außer Kontrolle geraten
Fluchtziel Kolumbien: Hunderttausende kehren Venezuela den Rücken / Kein Interesse am Sozialismus
Billy Six

Ein Menschen-Tsunami rollt nach Kolumbien, im Nordwesten Südamerikas. Jeden Tag ab fünf Uhr morgens, wenn bei Cúcuta die Schleuse, „Grenzbrücke Simon Bolivar“, aus dem Nachbarland Venezuela geöffnet wird – dem größten Nadelöhr für Personenverkehr zwischen beider Länder. Wie viele Menschen es tatsächlich sind, die den krisengeschüttelten „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ am Südrand der Karibik verlassen, darüber schweigen die Regierungen in Caracas und Bogotá gleichermaßen. 

Vielleicht wüßten sie es nicht einmal selbst, mutmaßen lokale Journalisten angesichts der teils außer Kontrolle geratenen Situation. Auf 20.000 bis 40.000 Zugänge lassen sich die täglichen Einreisen schätzen. Bis zu vier Stunden Anstehen für den Paß-Stempel in den langen Warteschlangen, inmitten einer staubigen, verdreckten, chaotisch wirkenden Umgebung. 

Die meisten kehren am Abend zurück – mit den Löhnen ihrer Billigarbeit oder Produkten, die in Venezuela Mangelware geworden sind. Doch immerhin mehr als 2.000 Busfahrten werden von spezialisierten Transportunternehmen täglich verkauft – nach Ecuador, Peru, Chile oder Argentinien. Dort, wo noch Geld verdient werden kann. 

Drei bis vier Millionen sind schon weg

Für viele Familien ist dies eine Frage der Existenz, seit die Gehälter für etwa 80 Prozent der Venezolaner unter (umgerechnet) zehn Euro im Monat gefallen sind – eine Folge der zur Zeit größten Inflation weltweit, die laut IWF bis Ende des Jahres auf eine Million Prozent ansteigen werde. 

Hunderte tauchen täglich in Kolumbien unter, kampieren teils auf den Straßen. Venezuela – einst beliebtes Einwanderungsland, auch für Deutsche – verliert damit hochgerechnet etwa eine Million Menschen im Jahr. Drei bis vier Millionen sind bereits weg, seit „Kommandant“ Hugo Chávez 1999 das Land übernahm und mit seiner linken „Bolivarianischen Revolution“ die „gerechte Umverteilung“ der weltgrößten Ölreserven und einst ertragreichen Agrarflächen anvisierte.

Panama hat bereits reagiert und eine Visumspflicht für Venezolaner eingeführt – die EU ist davon noch weit entfernt. Immer mehr Familien kratzen so ihre finanziellen Rücklagen zusammen, um den Sprößlingen eine Flugreise über den Atlantik zu ermöglichen. Die Asylanträge stiegen hier von 155 im Februar 2016 auf 1.359 im Februar 2018 (EASO) – meist in Spanien. In den USA, hauptsächlich Miami, gehen monatlich „rund 3.000“ Asylgesuche ein, berichtet n-tv – alte Touristen-Visa, die mittlerweile fast gar nicht mehr neu ausgestellt werden. Im armen Kolumbien jedoch, das erst vor kurzem einen 52jährigen Bürgerkrieg hinter sich gelassen hat, sind Hunderttausende gestrandet, denen eine Weiterreise zu teuer ist. 

Einer von ihnen ist Luis aus der Industriestadt Valencia: „Als Schuhmacher in Kolumbien verdiene ich zehn bis zwölfmal mehr als ein Anwalt in Venezuela“, berichtet der junge Mann resigniert. Immerhin gestattet die sozialistische Führung des Staatschefs Nicolás Maduro die Ausreise seiner Bürger, anders als „der große Bruder“ Kuba. Viele jener jungen Aufrührer, die im Sommer 2017 auf die Barrikaden gegangen waren, sind nun außer Landes. Im Unterschied zur DDR benötigt Venezuela keine Fachkräfte, um zu überleben: Die Rohstoffreichtümer werden an internationale Gläubiger verpfändet. Auch der Drogenschmuggel bringt Devisen ins Land, um die Gunst der führenden Militärs zu sichern. 

Willkommenskultur ebbt mehr und mehr ab

Nicht umsonst greift der ehemalige kolumbianische Präsident Álvaro Uribe (2002–2010) die Führung in Caracas an, macht ihre Enteignungspolitik für das Chaos verantwortlich. Mit gemischten Gefühlen blicken viele Kolumbianer auf diesen elegant gekleideten Mann, der seit der Wahl seines Zöglings Iván Duque im Juni wieder zum starken Macher im Lande, das dazu ab 31. Mai erster „globaler Partner“ der Nato in der Region geworden ist, aufsteigt.

Die harte Hand des konservativen Falken ermöglichte, die kommunistischen FARC-Rebellen zur Aufgabe zu drängen. Doch mit seinem Säbelrasseln gegen das Nachbarland scheinen viele eher weniger einverstanden. Bei einer öffentlichen Veranstaltung in „La Parada“ ruft Uribe zum Putsch in Venezuela auf. Dies wiederum nimmt Maduro auf und macht rechtsgerichtete Elemente in Bogotá für einen umstrittenen Drohnenangriff nahe der Präsidentenloge am Rande einer Militärparade zum Jahrestag der Bolivarischen Nationalgarde verantwortlich.

 Uribe dagegen befeuert die Migration: „Wir werden die Grenze öffnen, die kolumbianische Wirtschaft wiederbeleben – und zeitgleich erklären, daß die Söhne Venezuelas in Kolumbien die selben Rechte und Pflichten haben sollten wie die Kolumbianer“, so Uribe vor venezolanischen Migranten. Sie jubeln ihm zu. Noch vor wenigen Monaten gab es Gratis-Busse ins Landesinnere, bis heute werden Decken und Essen kostenfrei ausgegeben. 

Doch viele Kolumbianer in der Umgebung sind eher unzufrieden, so wie Geschäftsmann Pascual Santos: „Die Venezolaner richten viele Probleme an, weil sie sehr schmutzig und unehrlich sind. Sie kommen nicht, um nach Gutem zu suchen, sondern um uns zu schaden und zu schauen, was sie mitnehmen können.“ 

Tatsächlich gibt es derzeit viele Beschwerden über Kriminalität, Vermüllung, Obdachlosigkeit und Prostitution. Von der „Willkommenskultur“ vor ein bis zwei Jahren ist nicht mehr viel übriggeblieben.

Auch die venezolanische Seite meldet Einspruch an. Im Gespräch mit Mitarbeitern der Migrationsbehörde SAIME in Caracas heißt es, daß man in den vergangenen Jahrzehnten etwa fünf Millionen Kolumbianer im Lande aufgenommen und gut integriert habe. Bei der Reisewelle ins Nachbarland handle es sich nun hauptsächlich um Rückkehrer. Álvaro Sánchez, Kongreßabgeordneter für die Auslandskolumbianer, bestätigt diese Zahlen. Er ist Mitglied in Uribes und Duques rechtskonservativem „Centro Democrático“, wohnt selbst in Venezuela. 

Beinahe schüchtern erläutert der schmächtige Mann im Gespräch mit der JUNGEN FREIHEIT, daß viele dieser Menschen jedoch in Venezuela geboren, Kinder kolumbianischer Eltern(-Teile) seien, so wie er selbst. Von kolumbianischen Migranten kann demnach nur noch bedingt gesprochen werden. Doch beide Länder seien kulturell eng miteinander verbunden, betont Sánchez, der sich anders als Uribe in diplomatischer Zurückhaltung übt. Er betont: „Wenn es Venezuela nicht gutgeht, wird es Kolumbien auch nicht gutgehen.“