© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/18 27. Juli / 03. August 2018

Reizklima in der Rassefrage
Aktuelle Thesen des Harvard-Genetikers David Reich haben in den USA eine hysterische Debatte ausgelöst
Volkmar Weiss

Im Unterschied zur gesamten anderen Welt leben ursprünglich in Teilen Europas auch Menschen mit blonden Haaren und blauen Augen. Wo es zu diesen Mutationen gekommen ist, wohin und warum sie sich ausgebreitet haben, gilt als eine der Schlüsselfragen der Anthropologie und unserer Vorgeschichte. Daß es irgendwie mit der Herkunft und den Siegeszügen der Indogermanen in der letzten Nacheiszeit zusammenhängen muß, war schon lange mehr als eine Hypothese.

In den vergangenen Jahren ist es gelungen, Erbmaterial aus den ältesten erhaltenen Knochen zu entziffern. Im Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig wurde Pionierarbeit geleistet. David Reich selbst steht in der vordersten Reihe dieser Forschungsfront, und er fasziniert uns in seinem Buch mit einer ersten Zusammenschau der Ergebnisse. 

Einiges von dem, was schon die vergleichende Sprachgeschichte erforscht hat und durch die Ausgrabungen und Funde der Urgeschichtler belegt worden war, wird durch die Genetiker bestätigt. Die Indogermanen kamen aus dem Raum nördlich des Schwarzen und Kaspischen Meeres, lernten vor etwa 5.000 Jahren den Umgang mit Wagen und Pferden und breiteten sich in Wellen über Europa, nach dem Iran und nach Indien und bis in die Mongolei aus.

Der Verfasser spricht in neutraler Sprache an mehreren Stellen davon, daß eine Bevölkerung vollständig oder fast vollständig „replaced“ (ersetzt) worden sei, sehr oft aber Mischungen stattgefunden haben, wofür auch die unterschiedliche Häufigkeit mancher Gene auf den Geschlechtschromosomen X und Y spricht. Wir können heute nur ahnen, was sich abgespielt hat. Zogen ganze Stämme und vertrieben andere, löschten sie in Kriegen aus? Welche Rolle spielten Krankheitsanfälligkeit, Seuchen und unterschiedliche Kinderzahlen? Oder waren es eher Generationen von Jungmännerbünden, Steppenreiter, die auf Frauenraub und Eroberung auszogen? Welchen Selektionsvorteil im Überlebenskampf (bei der Partnerwahl?) müssen lange Zeit Blonde (und Rothaarige) und Blauäugige gehabt haben, damit ihr Anteil von Null auf viele Prozent bei Stämmen der Kelten, Germanen, Balten, Slawen und anderen anstieg? Die Rigveda handelt von der Zeit, als die Arier in Indien einfielen. In Indien korrelieren bis heute in einem deutlichen Gefälle von Nordwest nach Südost Sprachgruppe, Aussehen und Anteil der Gene indogermanischer Herkunft, dementsprechend auch die Zugehörigkeit zu Kasten. 

Man braucht keine Vorlesungen über Rassenkunde gehört zu haben, um zu sehen, daß die Menschen auf Neuguinea, Pygmäen im Urwald, Han-Chinesen und Isländer sich deutlich voneinander unterscheiden. Eines der bemerkenswertesten Ergebnisse der neuen Forschung ist zweifellos die gesicherte Feststellung, daß die Neandertaler nicht vollständig ausgelöscht worden sind, sondern daß es auch zu Verbindungen mit dem modernen Menschen gekommen ist. Neandertalergene lassen sich heute in sehr geringen Prozentzahlen in allen Teilen Eurasiens nachweisen, vor allem aber auf Neuguinea, wo auch die Gene des rätselhaften Denisova-Menschen eine unverkennbare Spur hinterlassen haben.

Am meisten überrascht ist der Rezensent von dem Befund, daß einige Stämme in Südamerika deutliche genetische Gemeinsamkeiten mit Neuguinea und Südostasien aufweisen, aber keine zu den Polynesiern. Reich deutet das mit mehreren Einwanderungswellen, in denen Amerika besiedelt worden sei, die Gene der ersten Welle in Nordamerika aber wieder ausgelöscht worden seien. 

Genetik und Anthropologie von Synthese weit entfernt

Die Zahl der Menschen, die in den Wechselfällen der Eiszeiten mit ihren Nachkommen überlebten, muß manchmal sehr klein gewesen sein. Welche Gene mit welchen Jagd- und Wirtschaftsweisen die größte Zahl von überlebenden Nachkommen hervorgebracht haben und gar warum, an solche Fragen wird man sich erst später heranwagen können. Reich schreibt über den Ärger, den er schon heute damit hat, weil einige indische Nationalisten nicht wahrhaben wollen, daß es tatsächlich eine indoiranische beziehungsweise arische Einwanderung und Überlagerung gegeben hat, oder Einwände dagegen, weil die Genetik jetzt die Ergebnisse der siedlungsarchälogischen Methode von Gustaf Kosinna (1858–1931) bestätigt, der die Kultur der Schnurkeramiker als eine Ausgangskultur der Germanen deutete und Völker und Kulturen (und ihre Religionen) in einer Entsprechung zueinander begriff.

Die Genetik ist heute schon so weit, daß sie aus den toten Knochen die Gene bestimmen kann, die Haarfarbe und Hautfarbe festlegen und manche Krankheitsanfälligkeit. Bei den Formmerkmalen des Körpers hingegen sind Genetik und Anthropologie von einer Synthese noch weit entfernt. Noch gar nicht sequenziert wurden bisher die Gene, die die Denkkraft, die Intelligenz und damit die kulturelle und wirtschaftliche Leistungskraft bestimmen sowie die soziale Schichtung. Bei den heute Lebenden sind wir erst jetzt auf der richtigen Spur (JF 35/17), wobei sich aber hundertfache Wiederholungen bestimmter Gen-abschnitte wie DUF1220 noch lange oder für immer der Dekodierung aus alten Knochen entziehen könnten. 

Der Anthropologe Walter Scheidt (1895–1976) fragte einst („Die Lebensgeschichte eines Volkes“, 1934): „Ist ein Volk dasselbe Volk wie das Volk seiner Vorfahren? (...) Der Historiker geht von der Annahme aus, daß die Bewohner eines Landes dieselben sind, solange eine Generation von der anderen abstammt und solange keine wesentlichen Zu- und Abwanderungen erfolgen. Das einzige, was sich verändert, ist nach seiner Meinung Bildung und Erfahrung, Umwelt und äußere Macht. So sucht er in diesen Änderungen der modelnden Umwelt alle Erklärungen des historischen Geschehens. Damit wird die lebensgesetzliche Kernfrage aller Geschichtsforschung völlig verschüttet. Diese Kernfrage heißt: Sind ‘wir’ die Nachkommen ‘unserer’ Vorfahren?“ Für die Zeit von 1400 bis 2000 wird sich das mit mittelalterlichen Knochen beantworten lassen, deren genetische Analyse noch gar nicht begonnen hat. 

Doch inwieweit werden die Deutschen von 2100 noch genetisch den Deutschen von 2000 entsprechen, bei vierzig Prozent Ausländerkindern an den Schulen? Wenn man dieses Arbeitsgebiet in fünfzig oder hundert Jahren mit dann mehrtausendfachen weiteren Daten erneut überblicken will, was wird von den Einsichten des Jahres 2018 geblieben sein?






Dr. rer. nat. habil. Dr. phil. habil. Volkmar Weiss , Jahrgang 1944, ist Genetiker und Sozialhistoriker. Von 1990 bis zu seiner Pensionierung 2007 war er Leiter der Deutschen Zentralstelle für Genealogie in Leipzig.

 www.v-weiss.de

David Reich: Who We Are and How We Got There. Ancient DNA and the New Science of the Human Past. Pantheon Books, New York 2018, gebunden, 352 Seiten, Abbildungen, 19,60 Euro