© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/18 27. Juli / 03. August 2018

Von der Utopie des einfachen Lebens
Heimatliteratur: Zur Erinnerung an den österreichischen Schriftsteller und Lyriker Peter Rosegger
Günter Scholdt

Sagt Ihnen der Name Rosegger noch etwas?“ Falls diese Frage außerhalb Österreichs gestellt wird, wo zumindest die Steiermark seiner gerade ehrend gedenkt, taugt sie als Generationen-Indikator. Denn wer sie hierzulande selbst in Germanistenkreisen bejaht, outet sich in der Regel als Grufti. Und wer gar Sympathie für den einst Populären anklingen läßt, gilt schon fast als ästhetischer Provinzler. Natürlich darf man auch von leidlich Gebildeten nicht verlangen, jede Regionalgröße im literarischen Gedächtnis zu bewahren. Doch Roseggers Vita belegt, daß der Autor seinerzeit – über die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts und Österreichs Grenzen hinaus – weit höher geschätzt wurde. 

Die Universität Heidelberg zum Beispiel verlieh ihm 1903 die Ehrendoktorwürde, der preußische Staat den Kronenorden. Sein schnell zu Hunderttausenden verbreiteter Bestseller „Als ich noch der Waldbauernbub war“ (1900–1902) wurde bezeichnenderweise vom Hamburger Jugendschriften-Ausschuß zusammengestellt. Auch besaß Rosegger seit 1907 die Ehrenmitgliedschaft der Londoner Royal Society of Literature und wurde mehrfach für den Nobelpreis vorgeschlagen. Wie also werden wir heute einem Schriftsteller gerecht, dessen Geburtstag sich soeben zum 175. und dessen Todestag sich zum hundertsten Mal jährte?

68er räumten mit einem ganzen Literaturgenre auf

Nähern wir uns ihm zunächst über die Biographie: Peter Rosegger (eigentlich Roßegger) wurde am 31. Juli 1843 im steiermärkischen Alpl geboren. Als Sohn eines Bergbauern verbrachte er seine Kindheit in einem fast analphabetischen Milieu. Daß er Lesen und Schreiben lernte, verdankte er einem entlassenen Waldschulmeister. Da er für den Bauernberuf zu schwächlich war, gab man ihn einem Wanderschneider in die Lehre, mit der Chance, Land, Leute und deren Sitten kennenzulernen. Als literarischem Autodidakten gelangen ihm erste Publikationen in Graz, die ihm verschiedene Stipendien eintrugen. Durch den Besuch der dortigen Akademie für Handel und Industrie sowie Reisen in benachbarte Länder erweiterte sich sein Horizont.

Doch im Kern speiste seine Autorschaft lebenslang eine tiefempfundene Heimatliebe und -kenntnis. Aus solchem Erlebnisreservoir schöpft sein umfangreiches (von 1913 bis 1916 in 40 Bänden gesammeltes) Erzähl- und Gedichtwerk als Basis einer erfolgreichen Schriftstellerkarriere. Viele sprechende Buchtitel verraten diesen Bezug, darunter der Erzählband „Volksleben in der Steiermark“ (1875), Romane wie „Die Schriften des Waldschulmeisters“ (1875), „Heidepeters Gabriel“ (1882), „Idyllen aus einer untergehenden Welt“ (1899) oder autobiographische Schriften wie „Waldheimat“ (1877) und die bereits erwähnten „Waldbauernbub“-Novellen.

In seiner 1876 gegründeten Zeitschrift Heimgarten erschienen neben Belletristik zahlreiche Beiträge zu gesellschaftspolitischen Fragen, von der Heimatliebe und Erziehung über Landflucht und Umweltzerstörung bis zu Religionsproblemen oder zeitgenössischen Reformanliegen, vom Vegetarier- und Abstinenzlertum bis zur Alternativmedizin. 

In gängigen Kompendien findet sich Rosegger meist treffend klassifiziert durch Stichworte wie „Poetischer Realismus“ oder „Heimatdichtung“ in der Nachfolge von Erich Auerbachs Dorfgeschichten, dazu im Kontext zu befreundeten Kollegen wie Anzengruber und Ludwig Ganghofer. Er schuf eingängig-volkstümliche sowie erzieherisch-ambitionierte meist ländliche Literatur, die vielfach Sozialkritik mit Humor kombinierte (1906: „Nixnutzig Volk“, 1912: „Sonnenschein“). Dabei wuchs nach offeneren Anfängen bald seine fundamentale Skepsis gegenüber der stürmisch aufkommenden Industriegesellschaft sowie den traditionszersetzenden zivilisatorischen Einflüssen der städtischen Moderne; exemplarisch hierfür 1896 „Das ewige Licht“ oder 1903 „Weltgift“, eine Satire mit gelegentlichen Bezügen zu Voltaires „Candide“. Ihnen hielt er eine als menschlicher empfundene, teils noch archaische Bauernidylle entgegen als konservative Utopie des einfachen Lebens. Gleichwohl kannte er, wie etliche seiner Psychogramme belegen, die konkreten Menschen zu genau, um sie episch zu verzuckern. 

Wachsende Einkünfte erlaubten ihm schließlich den Bau eines von ihm selbst geplanten, heute als Literaturmuseum genutzten Hauses in Krieglach, wo er am 26. Juni 1918 verstarb. Auf dem dortigen Friedhof findet sich ein schlichtes Grab mit der von ihm ersonnenen Aufschrift: „Wenn man nach 50 Jahren noch weiß, wer das ist, dann genügt dies; wenn nicht, gönnt ihm seinen Frieden.“

Fünf Dezennien später schrieb man allerdings 1968. Diejenigen, welche nun die ästhetischen Normen setzten, begegneten solchen Texten als literarhistorische Exorzisten. Ihre dogmatische Basis entstammte Fritz Sterns „Kulturpessimismus als politische Gefahr“, eine Studie, die nach mentalitätsmäßigen Vorläufern der Hitlerei fahndete und nostalgische Zivilisationskritik als politischen Risikofaktor einstufte. Stern erörtert dies anhand von anderen literarischen Ahnen. Aber nach seinem Muster räumte man in Germanistenkreisen mit einem ganzen Literaturgenre auf. Infolge solcher Prämissen geriet – um es ein wenig zu karikieren – jede belletristisch geweidete Kuh oder Bergziege unter Faschismusverdacht. 

Weitere fünfzig Jahre danach sind wir erneut gehalten, den Wert dieses Autors zu bestimmen. Doch sollten wir es abseits von vermeintlich „wissenschaftlichen“ Zeitgeistextremismen tun. Literaturgeschichte ist kein Steinbruch zur Legitimation politischer Tagesinteressen. Zugleich hilft Distanz, Ambivalenzen in Roseggers Werk stärker zu erfassen. Das gilt etwa für Sätze wie den häufig zitierten: „Ich schätze höher das Natürliche als das Gemachte, das Ländliche höher als das Städtische, die Einfachheit höher als den Prunk, die Taten höher als das Wissen, das Herz höher als den Geist.“ Das erheischt auf den ersten Blick spontane Zustimmung. Doch die gewählten Kontrastbegriffe verkürzen auch ein wenig zu schematisch. Zuweilen wird in seinen Texten auch zuviel „gepredigt“, statt „gedichtet“. Das rein handwerkliche Können dieses geborenen Volkserzählers wiederum – darunter etliche originelle Einführungen, An- und Verknüpfungen – scheint aktuell unterbewertet. 

Und gewiß stehen uns Roseggers Grundempfinden und dichterisches Ethos gegenwärtig wieder näher. Denn Heimatgefühle und sie behandelnde Werke blühen vornehmlich in Krisen. Spiegeln sie doch vor allem Bedrohungs- wie Verlustängste durch einschneidende Veränderungen: vom technisch-industriell-kommerziellen Strukturwandel über staatliche Eingriffe und Gebietsverschiebungen bis zu nationalen oder ethnischen Spannungen, zum Beispiel durch Massenzuwanderung. Insofern ist das Thema „Heimat“ in seiner emotionalen Kernsubstanz geradezu spektakulär zurückgekehrt und keineswegs von antiquarischem Interesse.

Er litt unter der rasanten Modernisierung

Das war es für Rosegger ohnehin nie. Denn sein schriftstellerischer Antrieb bediente nicht etwa nur folkloristische Sentiments lesender Städter. Er litt vielmehr zutiefst unter der rasanten Modernisierung, die ihn seiner Traditionswurzeln zu berauben drohte. Um einen Roman wie „Jakob der Letzte“ (1888) besser zu verstehen, nützt die Kenntnis, daß zwischen 1860 und 1890 in der Steiermark 50.000 Bauerhöfe aufgegeben wurden, jeder dritte in Roseggers engster Geburtsregion, wobei die Umwidmung vielfach zugunsten von Jagdland für industrielle Großmagnaten erfolgte. Wir atmen hier die sozialkritische Luft eines Wilhelm von Polenz und seines Romans „Der Büttnerbauer“, inklusive gewisser Phobien. 

Ohnehin stellen solche Probleme, lediglich in wechselndem Tagesgewand, konservative Urfragen zum Verhalten angesichts von Fortschritt, der manchmal nur ein sogenannter ist. Nostalgische Totalverweigerung gegenüber dem ungeliebten Neuen führt in illusionäre Sackgassen oder Träumereien von angeblichen früheren Goldenen Zeitaltern. Wo aber beginnt der Verrat eines im Zeitgeist befangenen, kritiklosen Mitläufertums? Ob oder inwieweit Rosegger hier stets die richtige Balance fand, wäre eine lohnende Überprüfung im Detail. Gefragt sind aufgeschlossene Leser. 






Prof. Dr. Günter Scholdt, Jahrgang 1946, ist Germanist und Historiker. Zuletzt veröffentlichte er das Buch  „Literarische Musterung. Warum wir Kohlhaas, Don Quijote und andere Klassiker neu lesen müssen“ (JF 27/17)