© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/18 27. Juli / 03. August 2018

Die geraubten Kinder
DDR-Unrecht: In zahlreichen Fällen wurden Babys im Arbeiter-und-Bauern-Staat für tot erklärt und zwangsadoptiert
Martina Meckelein

Die Schwestern – in weißen Krankenhauskitteln – sind barsch. Eine junge Frau, noch benommen von den Schmerzen der Geburt, liegt auf dem Gebärstuhl. „Es lief immer gleich ab“, sagt Eckbert Bormann (59). „Sie verpaßten ihnen erst Faustan und dann mußten sie einen Zettel unterschreiben.“ Was die Frauen da unterschrieben, wußten sie im nachhinein nicht. Sie vertrauten Ärzten und medizinischem Personal. Ein fataler Irrtum: Denn ihre Söhne und Töchter sahen sie nie wieder.

Die verschwundenen Kinder der DDR. Zwangsadoptiert oder angeblich tot. Der Schleier des Schweigens oder ein riesiges Leichentuch sollten den Kampf der Eltern um die Wahrheit unmöglich machen. Omerta made in GDR. Wie viele Kinder ihren Eltern weggenommen worden sind, weiß niemand. Aber Tausende kämpfen aktuell in Deutschland, Jahrzehnte nach diesem unmenschlichen Vorgehen eines verbrecherischen Systems, um Erkenntnis.  Sie wollen wissen: „Wo sind unsere Kinder?“ Die JUNGE FREIHEIT dokumentiert zwei Fälle.

Bormann ist Jahrgang 1959, ein ehemaliger Kripobeamter. Ausgebildet in der DDR, dann, 1990, übernommen von der Bundesrepublik Deutschland, zum zweiten Mal verheiratet. Seine Frau ist heute 58 Jahre alt. „2001 begann sie zu erzählen“, sagt Bormann. „Erst bruchstückhaft, dann immer mehr. Ihr Sohn Olaf sei ein paar Tage nach der Geburt verstorben, behauptete die Klinik. Für mich war relativ schnell klar, daß an der ganzen Sache etwas nicht stimmt.“ Die Erlebnisse seiner zweiten Ehefrau lassen ihn nicht mehr los. Er beginnt zu ermitteln.

Das Geheimnis der ominösen Totenscheine

Am 3. Februar 1979 entbindet Ramona Latte, damals 17 Jahre und ledig, im Kreiskrankenhaus Bautzen einen kleinen Jungen. Er soll Olaf heißen. Das Kind ist ein Frühchen. Er wird in einen modernen Inkubator mit eckiger Abdeckung gelegt und dort weiter medizinisch versorgt. Es gibt keine medizinischen Probleme. „Dann, fünf Tage später, am 7. Februar, schaute meine Frau kurz vor der Morgenvisite aus dem Fenster ihres Krankenzimmers.“  

In dem Moment sieht sie, wie einer dieser modernen Inkubatoren – es soll der einzige in der Klinik sein – in einen Krankenwagen verstaut wird und das Fahrzeug wegfährt. Ramona Latte will auf die Säuglingsstation – doch sie wird von einer Schwester abgefangen und in ihr Zimmer zurückverwiesen. Dort eröffnet ein Arzt ihr, daß Olaf in der Nacht zuvor um 22.15 Uhr gestorben sei. Sie bekommt zur Beruhigung den Tranquilizer Faustan verabreicht und muß dann, auf Drängen ihrer Eltern, Dokumente unterschreiben, nach denen die Bestattungsformalitäten von der Klinik erledigt würden. Die noch Minderjährige unterschreibt. Ihr totes Kind darf sie nicht sehen. Wo der kleine Olaf beerdigt ist, wird seine Mutter nie erfahren. Sie besucht über Jahre Friedhöfe, schaut sich die Namen auf den Grabsteinen an – erfolglos. In ihrer Familie führt dieses Engagement zu Zerwürfnissen. „Sie solle aufhören damit, verlangten der spätere Ehemann und die Eltern “, sagt Bormann. Indes kaufen sich die Eltern der jungen Frau teure Haushaltsgeräte und lassen die Sofagarnitur neu beziehen, Kosten: 10.000 Ostmark. Woher stammt das Geld?

Als Bormann 2001 zu ermitteln beginnt, besorgt er die alten Totenscheine, Patientenakten, Rechnungen für den Kindersarg. Auf dem „Totenschein für Totgeborene für unter einem Jahr Verstorbene“ ist unter der Rubrik: „Todesursache, Feststellung bei der Leichenschau“ in Schreibmaschinenschrift zu lesen: „Allgemeine Unreife.“ Darunter, im Feld für die Pathologie, steht unter „Todesursache, Ergebnis der Autopsie“, handschriftlich ausgefüllt: „allg.“ Dann ist ein Wort bis zur Unkenntlichkeit durchgestrichen und wieder der Begriff: „Unreife“ zu lesen.

Bormann erklärt weiter: „Den Original-Totenschein fanden wir im Landesverwaltungsamt in Chemnitz. Er stimmt nicht mit dem Durchschlag aus der Patientenakte überein. Auf dem Original-Totenschein sind völlig falsche Angaben zur Mutter ausgefüllt, während auf dem Durchschlag gar keine Angaben stehen.“ Weitere Ungereimtheiten fallen ihm auf. „In der Patientenakte meiner Frau steht die Geburtsnummer 172, in der Geburtsanzeige im Geburtenjournal die Nummer 173.“

Zwangsadoption nach gescheiterter Republikflucht

Die Familie seiner Frau schweigt eisern über den Tod der Eltern hinaus. Nur einmal, auf einem Familienfest, als es wieder einmal um Olafs Verschwinden geht, deutet eine Tante dunkel an: „Das Geheimnis hat deine Mutter mit ins Grab genommen.“ Bormann kämpft weiter. „Wir wissen gesichert von 140 Fällen von angeblichem Säuglingstod.“ Er will Einsicht in die Stasiakten seiner verstorbenen Schwiegereltern. „Doch die Behörde für Stasiunterlagen verweigert uns die Einsichtnahme mit der Begründung, in den Akten sei nichts über das angeblich verstorbene Kind verzeichnet. Die ist absolut taub bei dem Thema.“

Andreas Laake (58) kennt dieses jahrelange Hoffen und Bangen. „Das Schlimmste ist diese Ungewißheit. Statt Antworten tauchen immer neue Fragen auf.“ Laake hat Jahrzehnte nach seinem Kind gesucht – er hat es gefunden.

Am 10. April 1984 versucht der Leipziger Haushandwerker Andreas Laake mit seiner schwangeren Frau in einem Schlauchboot über die Ostsee in den Westen zu fliehen. Sie werden entdeckt. Andreas Laake übernimmt alle Schuld und wird wegen versuchter Republikflucht zu vier Jahren und sieben Monaten Haft verurteilt. „Meine Frau kam nach acht Wochen wieder raus“, sagt er der JF. „Aber sie gab unser gemeinsames Kind nach der Geburt zur Adoption frei.“ Der kleine Junge, er soll nach dem Willen des Vaters Marko heißen, kommt am 20. Oktober 1984 zur Welt. 

Laakes Mutter arbeitet zu der Zeit bei der Post. Sie will ihrem Sohn, der im Gefängnis sitzt, ein Foto des kleinen Marko schenken. „In der Postuniform ging sie ins Krankenhaus und behauptete, ein Telegramm auf der Entbindungsstation abgeben zu müssen. Einer Schwester, die vertrauenswürdig aussah, erzählte sie, daß sie nur schnell das Kind sehen wolle.“ Die Schwester erlaubt es. Laake weiter: „Und mit so einem alten DDR-Fotoapparat schoß meine Mutter dann das Foto, mit dem ich Jahre später meinen Sohn suchen – und auch finden sollte.“

Nach der Adoptionsfreigabe seiner Frau hat Laake nach DDR-Recht das alleinige Erziehungs- und Aufenthaltsbestimmungsrecht. „Doch das Jugendamt bombardierte mich mit Briefen, ich sollte meinen Sohn zur Adoption freigeben – ich habe aber nie etwas unterschrieben.“ Die Behörden setzen sich allerdings über den Willen des Vaters hinweg. Der kleine Marko wird zwangsadoptiert. „Per Gerichtsurteil wurden mir 1986 alle Rechte als Vater aberkannt“, sagt Laake. Es ist das Jahr, in dem auch die Scheidung von seiner Frau rechtskräftig wird. Laake muß von da an noch zwei Jahre im Gefängnis sitzen. Kenntnis von dem Urteil, das ihn seiner Rechte als Vater beraubte, erlangte er erst 25 Jahre später auf der Suche nach seinem Sohn.

Nach der Wende beginnt er zu suchen. „Das Jugendamt sagte, alles sei rechtskräftig.“ Und das ist es auch. Denn im Einigungsvertrag wurde es unterlassen, Zwangsadoptionen als schwere Menschenrechtsverletzung zu ächten. Es mag wie ein Akt der Verzweiflung erscheinen, daß Laake mit dem uralten Schwarzweißfoto, jenes, das seine Mutter von dem kleinen Marko in der Klinik machte, am 6. Oktober 2013  in der Sat.1-Sendung „Bitte melde Dich“ auftrat. „Einen Tag später klingelte bei mir abends das Telefon. Ich nahm ab, hörte jemanden atmen. Ich sagte nur: Marko? Dann sagte eine Stimme: Ja. Ich fragte: Mein Marko? Und die Stimme antwortete: Dein Marko.“ Marko glaubte, seine leiblichen Eltern hätten ihn freiwillig zur Adoption weggegeben. „Aber ich konnte ja beweisen, daß es nicht so war“, sagt Laake. Er will den Adoptiveltern nichts wegnehmen. „Wir können die Kinder doch nicht zweimal bestrafen und wieder aus der Familie rausreißen.“

Laake und Bormann engagieren sich in der Interessengemeinschaft gestohlene Kinder der DDR. Am 18. Oktober werden sie mit weiteren Betroffenen und einer Klagerolle vor dem Landtag in Schwerin demonstrieren. Laake: „Wir klagen DDR-Unrecht an.“ Die Eltern der gestohlenen Kinder haben aber noch ein Problem. Bormann: „Uns Älteren läuft einfach die Zeit weg.“