© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/18 / 20. Juli 2018

Zwei Stimmen für den Betreuer
Inklusion: Union und SPD treiben unter dem Beifall der FDP das Wahlrecht für Schwerstbehinderte voran
Paul Rosen

Inklusion ist zum politischen Kampfbegriff geworden. Längst geht es nicht mehr allein um die Teilhabe von Behinderten am öffentlichen Leben, sondern ebenso wie beim Genderismus um eine Veränderung der Gesellschaft. Die Inklusion in den Schulen hat unter dem Motto „Bildung für alle“ den Leistungsgedanken in den Hintergrund gerückt. Jetzt greift die Inklusion auf die Politik über: Das Wahlrecht soll auch geistig Schwerstbehinderten zugestanden werden. 

Bemühungen für ein   „Wahlrecht für alle“

Die FDP-Fraktion ist mit ihrem „Entwurf eines Gesetzes für mehr Teilhabe im Wahlrecht“ ganz vorn an der Inklusionsfront. „Die Teilnahme an Wahlen ist für viele Menschen mit Behinderungen ein wichtiges Element ihrer Selbstbestimmtheit und ihrer Teilhabe am politischen und gesellschaftlichen Leben“, heißt es darin. Begründet wird der Vorstoß mit dem Grundgesetz, wonach niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf und der vom Bundestag ratifizierten UNO-Behindertenrechtskonvention mit dem Recht auf Teilhabe am politischen und öffentlichen Leben. 

In Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein, Bremen und Brandenburg hätten die Landtage die dortigen Regelungen zum Wahlausschluß von Behinderten bereits gestrichen, macht die FDP Druck auf den Bundestag. „Das Wahlrecht ist ein Eckpfeiler einer jeden Demokratie. Menschen unter Vollbetreuung sind vom Wahlrecht ausgeschlossen, obwohl unstrittig ist, daß von der Unfähigkeit zur Regelung der Alltagsangelegenheiten kein Rückschluß auf die Wahlfähigkeit gezogen werden kann“, wird argumentiert. 

Am Begriff „Vollbetreuung“ wird das Problem des FDP-Antrags deutlich. Etwa 80.000 Personen sollen in Deutschland unter Vollbetreuung stehen; in Teilbereichen von – so hießen sie früher – „Vormündern“ betreut werden sogar rund eine Million Menschen. Letztere haben das Wahlrecht. Was Vollbetreuung durch einen Angehörigen, durch Berufsbetreuer oder durch sogenannte Betreuungsvereine heißt, macht am besten eine juristische Negativdefinition deutlich: „Vollbetreuung kommt dann nicht in Betracht, wenn der Betroffene in der Lage ist, einen Teilbereich seines Lebens selbst zu bewältigen.“ Umgekehrt heißt das: Nur die schwersten Fälle kommen unter Vollbetreuung.

Die schwersten Fälle sind nicht etwa Menschen mit Down-Syndrom, die mit viel Förderung und liebevoller Zuwendung Schulabschlüsse schaffen und Berufe ausüben können, sondern psychisch Schwerkranke in geschlossenen Anstalten, Alzheimer-Patienten im fortgeschrittenen Stadium oder schwer Gehirngeschädigte wie zum Beispiel Wachkoma-Patienten, die nach dem Ereignis zunächst unter vorübergehende Betreuung kommen, die aber – wenn es keine gesundheitlichen Fortschritte gibt – in eine dauerhafte Vollbetreuung umgewandelt wird. Nur diese führt zum Verlust des Wahlrechts. Bei den öffentlich von Inklusions-Befürwortern vorgeführten Wahlausschluß-Fällen handelt es sich regelmäßig um Behinderte mit Down-Syndrom, bei denen möglicherweise eine Vollbetreuung unverhältnismäßig ist. Eine Teilbetreuung könnte das Wahlrecht bringen, ohne gleich das Wahlgesetz ändern zu müssen. Diese Fälle sind besser individuell über das Betreuungsrecht statt pauschal per Gesetzesänderung zu entscheiden. 

„Es ist höchste Zeit, daß auch alle Menschen mit geistiger Behinderung wählen können“, fordert aber Burkhard Lischka, innenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. Denn: „Wählen ist ein Grundrecht.“ Natürlich ist Wählen ein Grundrecht. Die Frage, wie aber Wachkoma-Patienten ihr Wahlrecht ausüben sollen, kann Lischka ebensowenig beantworten wie FDP, Grüne, Linke und auch CDU. Union und SPD wollen  im Herbst einen Fraktionsgesetzentwurf in den Bundestag einbringen, mit dem die Inklusion in das Wahlrecht Einzug halten soll. 

Damit kommen die Bemühungen hin zu einem „Wahlrecht für alle“, das irgendwann auch Zehnjährige und alle Ausländer einschließen dürfte, einen großen Schritt voran – nur die 3.300 schuldunfähigen Straftäter (davon ein größerer Teil Sexualmörder), die sich in einer gesicherten psychiatrischen Einrichtung befinden, sollen zunächst nicht wählen dürfen. Die Inklusion im Wahlrecht droht aber den Grundsatz des gleichen Wahlrechts zu verletzen, wonach jeder nur einmal an einer Wahl teilnehmen darf. Betreuende Angehörige haben dann zwei Stimmzettel zur Hand – für sich und für den Betreuten. Berufsbetreuer können plötzlich für Dutzende von Betreuten, die sie zum Teil nicht einmal persönlich kennen, die Stimme abgeben. 

Der Inklusions-Vorstoß im Wahlrecht wirft aber auch andere Fragen auf: Was ist mit Demenz- und Alzheimer-Kranken, deren Briefwahlstimmen regelmäßig in den Wahlämtern ankommen? Haben wirklich die Kranken selbst gewählt? Das Problem ist weit größer als die 80.000 Behinderten, die von der Bundestagswahl ausgeschlossen sind.