© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/18 / 20. Juli 2018

„Er stellte sein Land über sein Leben“
Mit Georg Alexander Hansen zählte selbst der Chef der deutschen Abwehr zum 20. Juli 1944. Wie der deutschnationale Offizier die SS täuschte und den Widerstand unterstützte, berichtet Sohn Karsten
Moritz Schwarz

Herr Dr. Hansen, Ihr Vater war hart und empathielos, nur auf Leistung, Gehorsam und den guten Ruf der Familie bedacht.

Karsten Hansen: Was? Nein. Wie kommen Sie denn darauf?

So werden bürgerliche Familienväter seiner Zeit heute gerne dargestellt.

Hansen: Also mein Vater war sehr liebevoll und immer fröhlich, zumindest soweit ich ihn mit meinen sechs Jahren erlebt habe. Er hat mit uns gespielt oder wir haben Gartenarbeit gemacht oder gingen spazieren. Ich habe mich immer darauf gefreut, wenn er nach Hause kam.

Er war nicht autoritär?

Hansen: Nein – aber er hatte Autorität. Als ich einmal ein Spielzeug meines Bruders kaputtgemacht hatte, hielt er keine Strafpredigt, sondern erklärte mir, warum das falsch war und ich mich bei meinem Bruder entschuldigen sollte.

Aber er war doch Offizier, politisch rechts und deutschnational.

Hansen: Ja, aber „rechts“ war damals ein Begriff, mit dem viele Leute nur Gutes verbanden. Schließlich war Deutschland mit Gründung des Kaiserreichs ein unerhörter Aufstieg gelungen, das Land wurde wohlhabend, modern und politisch einflußreich. Mein Vater, Jahrgang 1904, stammte aus einer kaisertreuen Familie. Sein Vater war Oberforstmeister des Herzogs von Sachsen-Coburg und Gotha in Coburg gewesen, und wie der war auch er zunächst monarchistisch eingestellt.

„Zunächst“?

Hansen: Mein Vater verstand, daß trotz der Niederlage von 1918 die deutsche Armee wieder zu Ehren kommen und Deutschland aufgerichtet werden mußte – mit ein Grund, daß er sich 1923 in Coburg zur Reichswehr meldete. Zwar durfte er als Soldat nicht wählen, das war damals so, aber als Hitler kam, begrüßte er das, weil es dem zu gelingen schien, die Schmach von Versailles zu tilgen. Vorbehalte gegen Hitler hatten damals eher ältere, eingefleischte Konservative, die am Kaiser festhielten. Mein Vater aber war jung und offen für Neues.

Den anfänglichen guten Glauben an Hitler hatte er ja mit Stauffenberg, von Tresckow, den Geschwistern Scholl und anderen späteren Widerstandskämpfern gemeinsam.

Hansen: Eben, aber schon 1934 kamen wegen der Morde beim sogenannten Röhm-Putsch Bedenken auf. Wenn es tatsächlich Verfehlungen des SA-Führers Ernst Röhm und seiner Genossen gegeben haben sollte, so hätten diese Leute vor ein ordentliches Gericht gehört, statt einfach erschossen zu werden. Und neue Bedenken kamen meinem Vater, als die Armee auf Hitler statt wie bisher auf den Staat vereidigt wurde und als die Judenhetze, die Judenmorde zunahmen. Damals traf er sich mit Freunden und Kameraden zu Gesprächskreisen, und immer mehr entwickelte sich dadurch sein Anti-Hitlerismus. Als er dann 1935 zum ersten Generalstabslehrgang nach Berlin kommandiert wurde, traf er General Ludwig Beck, der dort der Leiter war und Hitlers Politik kritisch sah. Beck hat meinen Vater darin bestärkt, daß ein Soldat keineswegs nur auf Krieg aus ist, sondern neben Mut und Tapferkeit auch das Menschliche, Ethische und Christliche ehrt, daß er auf Friedfertigkeit und Diplomatie achtet, den sogenannten Kadavergehorsam ablehnt.

Der kritische Beck wurde 1935 Generalstabschef, war damit einer der höchsten Soldaten des Reiches. Warum kommen Facetten wie diese in heutigen populären Darstellungen, etwa im Film, kaum vor, wo meist der Eindruck erweckt wird, die Wehrmacht habe Hitler einhellig begrüßt?

Hansen: Tja, wissen sie, die vielen Namen des militärischen Widerstandes verwirren die Leute. Am Ende verbindet der Normalbürger historische Ereignisse mit einer Schlüsselperson. Und beim Widerstand ist das Graf Stauffenberg – der ja tatsächlich dynamisch und hochaktiv war – alles übrige verschwindet dahinter.

Den lernte Ihr Vater 1936 kennen.

Hansen: Ja, ebenfalls auf der Kriegsakademie. Aber ihre Wege trennten sich wieder. Mein Vater kam 1937 zur Abteilung „Fremde Heere Ost“, deren Chef damals Oberst von Tippelskirch war. „Fremde Heere Ost“ war eine Abteilung für Auslandsaufklärung und Spionageabwehr der Wehrmacht, zum Ausspähen der möglicherweise feindlichen Heere. Die Abteilung „Ausland/Abwehr“, deren Chef seit 1935 Admiral Canaris war, hatte andere Aufgaben. Hansen lernte aber Canaris und Hans Oster schon 1937 im Reichskriegsministerium kennen.

Der bekannte Canaris war Widerständler der ersten Stunde – auch wenn er nichts mit dem späteren 20. Juli zu tun hatte.

Hansen: Canaris war immer mit dem Herzen und allen Sinnen beim Widerstand. Ja, es ist schon unglaublich: Fast von Beginn an gehörten also höchste Wehrmachtsangehörige zum Widerstand gegen Hitler. Als mein Vater 1942 schließlich ins Amt von Canaris versetzt wurde, kam er weiteren prominenten Widerständlern näher wie Hans Piekenbrock, Günther Smend oder Hans Oster.

Allerdings hat General Oster den Alliierten Angriffspläne zugespielt, also Landesverrat begangen – was der Widerstand vom 20. Juli doch abgelehnt hat!

Hansen: Das war erst 1939, mein Vater lernte Oster aber schon 1937 kennen.

Hat er Osters Landesverrat abgelehnt?

Hansen: Das kann ich nicht sagen.

Gibt es nicht einen entscheidenden moralischen Unterschied zwischen dem Sturz eines Diktators und Verrat zum Schaden der eigenen Truppe?

Hansen: Natürlich. Nur ist das in einer so verzweifelten politischen und militärischen Situation wie damals nicht immer klar zu trennen.

Der 20. Juli wollte ja eben nicht, daß Deutschland an den Fronten verliert. Im Gegenteil, diese sollten gehalten und erst im Zuge eines Waffenstillstands auf die Reichsgrenze zurückgenommen werden.

Hansen: Ich glaube, in der damaligen Kriegsrealität ging mitunter irgendwann das eine unvermeidlich in das andere über. Oster wollte ja nicht, daß Deutschland den Krieg verliert, sondern verhindern, daß es überhaupt Krieg gibt.

Was aber nichts daran ändert, daß er in erster Linie seine Kameraden, statt wie der 20. Juli die politische Führung verriet.

Hansen: Ja, doch war sicherlich sein Standpunkt, dieses Opfer sei es wert, Europa vor einem weiteren Krieg zu retten. Was wissen wir Nachgeborenen schon von der Situation dieser Menschen – wie sie gedacht und empfunden haben, unter welchem Druck sie standen und wie sie moralisch abzuwägen gezwungen waren. Zwar lesen wir heute ihre Aufzeichnungen und Briefe und was Historiker über sie herausgefunden haben, aber das ist nur ein Teil der Wahrheit. Für uns heute ist es natürlich leicht zu beurteilen, was richtig gewesen wäre. Aber ich weiß nicht, ob wir auch dann noch so klar sehen und uns verhalten würden, wären wir plötzlich an ihrer Stelle.

Was genau war im Krieg die Aufgabe Ihres Vaters als Offizier der Abwehr?

Hansen: Die Abwehr schleuste zum Beispiel Spione beim Feind ein oder ließ Späher mit Fallschirmen hinter den feindlichen Linien landen, um das Hinterland zu erkunden oder Brücken zu sprengen. Oder sie warb in den besetzten Gebieten Zivilisten an, die Informationen aus der Bevölkerung lieferten, etwa über Widerstandsgruppen. Er leitete also klassische Agententätigkeiten, wie Sie sie aus dem Film kennen. Und so konnte mein Vater den deutschen Widerstand auch ständig mit wichtigen Informationen versorgen, Geld und Devisen beschaffen, Fahr- und Flugzeuge bereitstellen oder schützend die Hand über jemanden halten. Zum Beispiel besorgte der Abwehr-Offizier Wessel Freytag von Loringhoven den Sprengstoff für Stauffenberg. Und auch Hans von Dohnanyi diente bei der Abwehr, wodurch er die Möglichkeit hatte, Juden als deutsche Agenten zu tarnen und so ins Ausland entkommen zu lassen.

1944 machte Canaris ihn zu seinem Nachfolger. Hätte er dafür nicht General sein müssen?

Hansen: Ein Amtschef war immer General. Hansens Beförderung war bereits vorgesehen, wurde aber von der SS zurückgehalten, wohl um die Abwehr weiter abzuwerten. Der SS-Führung im sogenannten Reichssicherheitshauptamt war Canaris schon lange ein Dorn im Auge, und so nutzte sie dessen Amtsenthebung, um die „Abwehr“ unter ihre Kontrolle zu bringen. Mein Vater war zwar ihr neuer Chef, unterstand aber von nun an dem Reichssicherheitshauptamt. Allerdings hatte das auch Vorteile, denn so stand er gezwungenermaßen regelmäßig in Kontakt mit der SS-Spitze, was ihm – und damit dem Widerstand – natürlich auch zu Informationen verhalf, die man sonst nicht bekommen hätte.

Erstaunlich genug, daß mit Canaris der Chef des Militärgeheimdiensts ein Top-Widerständler war. Aber daß man nach dessen Absetzung erneut einen Widerständler dort einsetzt und das nun auch noch direkt unter den Augen der SS, ist doch geradezu unglaublich.

Hansen: Tja, als das dann nach dem 20. Juli offenbar wurde, war das für die SS sicher ein Schock: Was? Der Hansen! Der auch?! Aber erinnern Sie sich bitte an den Hitler-Gegner Generaloberst Ludwig Beck. Als der schließlich 1937 aus Protest gegen Hitlers Politik als Chef des Generalstabs zurücktrat, war sein Nachfolger General Franz Halder – der 1938 alles für einen großangelegten Putsch gegen Hitler vorbereitet hatte. Doch gerade als dieser stattfinden sollte, unterzeichneten die Alliierten das Münchner Abkommen und zerstörten so die politische Legitimierung des Staatsstreichs der Wehrmacht. Durch diesen Schachzug Hitlers war die Kriegsgefahr zunächst gebannt, und so gab es für die Militärs kein Argument mehr gegen ihn, mit dem sie seine Absetzung vor der Öffentlichkeit hätten rechtfertigen können.

Ihr Vater war 1938, damals noch Hauptmann, Mitwisser der Putschvorbereitungen. Wieso war ein einfacher Hauptmann wie er informiert?

Hansen: Tja, offenbar waren die Widerstandskreise erstaunlich offen. Meine Mutter hat später immer wieder gesagt, es sei eigentlich unglaublich gewesen, wie leichtfertig die Offiziere über alles geredet hätten. Dennoch ist nichts aufgeflogen, weder 1938 noch 1944 – und auch nicht in den Jahren dazwischen, in denen es ja ebenfalls etliche Pläne und Versuche gegeben hat, Hitler zu töten. Mein Vater war durch vertrauliche Gespräche ab 1937 informiert.

Aber warum hat Ihr Vater 1944, inzwischen Oberst und General in spe, auch am 20. Juli nicht teilgenommen?

Hansen: Weil der Termin für das Attentat sehr kurzfristig gewählt wurde – eigentlich hätte es schon am 15. Juli stattfinden sollen, mußte unvorhergesehen auf den 20. verschoben werden. Für diesen Tag aber hatte mein Vater einen Termin auswärts, von dem die SS wußte, die sein Telefon abhörte – was ihm natürlich klar war. Sie tat das übrigens nicht, weil sie Verdacht hegte, sondern weil sie über alles informiert sein wollte. Dabei hätte er beim Aufstand mit einem Kommando das Reichssicherheitshauptamt besetzen sollen. Aber wäre er deshalb in Berlin geblieben, hätte man ihn sofort befragt und sich so manches zusammenreimen können. 

Trotz des Scheiterns des 20. Juli kehrte er nach Berlin zurück. Wußte er nicht, daß ihm der Tod droht?

Hansen: Doch. Und unsere Mutter bat ihn dringend, sich ins Ausland abzusetzen – was kein Problem gewesen wäre, weil ihm als Chef der Abwehr Flugzeuge unterstanden. Er aber sagte nur: „Mein Platz ist in Berlin.“

Warum?

Hansen: Ich denke, weil er als Patriot und Offizier sein Land und seine Pflicht über sein Leben stellte, auch über seine Familie, und weil er seinen Kameraden beistehen wollte, auch im Untergang. Natürlich wurde er verhaftet, gefoltert und im zweiten 20.-Juli-Prozeß im August 1944 vor dem „Volksgerichtshof“ Roland Freislers zum Tode verurteilt und am 8. September in Berlin-Plötzensee langsam erhängt. Also nicht wie sonst beim Hängen mit einem Ruck, der das Genick bricht – sondern vorsichtig wurden er und die anderen an Drahtschlingen gehängt, so daß sie langsam qualvoll erstickten, während der Draht in Fleisch und Luftröhre schnitt.

Wann wurde Ihnen klar, daß Ihr Vater ein Held war?

Hansen: War er das denn? Ganz ehrlich, als Kind wünschte ich mir, er wäre an der Front gefallen, wie die Väter der anderen. Lange noch waren wir „Verräterkinder“ und wurden so behandelt. Selbst von etlichen Lehrern, nach meiner Salemer Zeit, und auch später noch bei der Bundeswehr, wo ich 1961 als Leutnant ausgeschieden bin, von manchem Vorgesetzten. Man wurde, ich sage mal „merkwürdig“ behandelt, wenn nicht extra streng oder gar regelrecht schikaniert – wegen des Vaters. Meine Mutter ging nur sehr ungern in die Stadt, weil sie dort Anspielungen auf den Vater ausgesetzt war. Meist waren er, Stauffenberg und die anderen „Verräter“ – und wenn nicht das, dann „Militaristen“.

Wieso fragen Sie „War er das?“ Ist er für Sie denn kein Held?

Hansen: Doch, heute erkenne ich das. Ebenso wie jeder Soldat, der untadelig gekämpft hat – ein jeder dort, wo das Geschehen ihn hingestellt hat. Ich meine, man muß im Soldaten immer zuerst den Menschen sehen. Mein Gott, wenn ich an die Schicksale so vieler junger Männer denke, die sterben mußten oder in Rußland verschollen waren. Heute weiß ich, daß mein Vater für die richtige Sache in den Tod gegangen ist. Aber deshalb würde ich nie einem anderen Soldaten Respekt und Ehre absprechen, so wie das früher viele meinem Vater gegenüber getan haben. Tapferkeit und das Ehrgefühl, seiner Heimat verpflichtet zu sein, das ist das Band, das deutsche und alliierte Soldaten, Widerstandskämpfer und Frontkämpfer von damals doch alle moralisch verbindet. 






Dr. Karsten Hansen, der Mediziner und Stabsarzt der Reserve wurde 1938 in Berlin geboren. 2014 veröffentlichte er die 76seitige Schrift „Widerstand und Abwehr. Aus dem Leben des Oberst i.G. Georg Alexander Hansen“, die über den Kulturverein Rangsdorf zu erhalten ist.  

Foto: Georg Alexander Hansen (r.) 1943 mit Admiral Wilhelm Canaris (vorne), seinem Vorgänger als Chef der deutschen Abwehr: „Als Patriot und Offizier ... kehrte er nach Berlin zurück, statt sich ins Ausland abzusetzen (obwohl er wußte, was ihm drohte), um seinen Kameraden auch im Untergang beizustehen“

 

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