© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/18 / 13. Juli 2018

Vor dem großen Sprung nach vorne
Im Land des Roten Drachen: Welchen Einfluß hat Chinas wirtschaftlicher Aufschwung auf Staat, Kultur und Identität?
Matthias Moosdorf

Fast 1.500 Kilometer in etwas über vier Stunden: der „Bullettrain“ genannte ICE der China Railway Company braucht von Hangzhou nach Peking soviel Zeit wie sein Bruder in Deutschland für die nur halb so lange Strecke Berlin-München. Wenn der ICE denn fährt und pünktlich ist. In China ist Pünktlichkeit jedenfalls kein Problem mehr. Sauberkeit, Komfort, Preis und Frequenz der Züge geben ebensowenig Anlaß zur Kritik wie die Planungs- und Bauzeiten nur staunen lassen.

Das gesamte Sprinter-Netz wurde erst im Jahre 2008 begonnen. Verhältnisse wie bei Stuttgart 21 oder der BER-Chaostruppe wären hier völlig undenkbar und würden mit langen Haftstrafen geahndet werden. Über Stunden fährt man also mit gleichbleibenden 350 km/h. Draußen fliegen die Landschaften vorbei, Dörfer, riesige Wälder, ab und an ein Kraftwerk oder größere Industriebetriebe. Die Technik der Züge erinnert an Siemens, jeweils andere Details stammen vom japanischen Shinkansen oder dem französischen TGV. 


Kein Problem mit der Ausbildung von Eliten

Eine internationale Schule nahe Shanghai, Kinder aus etwa hundert verschiedenen Nationalitäten lernen hier gemeinsam. Die Schule ist privat organisiert, vergibt Stipendien oder muß von den Eltern bezahlt werden. Die Preise sind moderat. Die Erfolge können sich sehen lassen. In den landesweiten Tests können maximal 145 Punkte erreicht werden, die besten Schüler dieser Schule kommen auf 143 Punkte. Orientiert wird sich nach oben, so weit oben wie es eben geht. Eine Anekdote mag das illustrieren:

Ein Berliner Freund mit zwei höchstbegabten Kindern erzählte neulich, daß diese sich an der berühmten Universität Albert Einsteins in Princeton/USA beworben haben. Guter Dinge und im Bewußtsein der vermeintlich erstklassigen Bildung an einer Berliner Privatschule nahmen sie an dem mehrtägigen Test teil. Ihre Ergebnisse gehörten wirklich zu den fünf besten aus Europa. Allerdings waren 2.000 Chinesen besser. Im Fach Mathematik rangierten beide deutschen Staaten bis zum Fall der Mauer in internationalen Vergleichen über Jahrzehnte auf den ersten Plätzen, heute liegt der deutsche Durchschnitt bei Platz 30 bis 35, je nach Statistik. Auf dem chinesischen Lande ist die Situation allerdings völlig anders. Dort brechen 63 Prozent der chinesischen Kinder nach der Pflichtschulzeit mit 15 Jahren die Schule ab.


Einwanderung ist 

nicht erwünscht

China ist wirtschaftlich hervorragend aufgestellt. Das Land wächst – nach allen verfügbaren Parametern. Seine Lage im Zentrum des asiatischen Kontinents und seine schier unlimitierten Möglichkeiten machen es aus europäischer Sicht zu einem attraktiven Anlaufpunkt für Migranten aller Art. Dennoch ist illegale Einwanderung nach China kein Problem. Und das, obwohl die Grenze über 1,8 Millionen Kilometer (!) militärisch allein nicht zu sichern ist. Offiziell wurden 2016 lediglich 29 Asylanträge  positiv beschieden. Ohnehin besteht kaum Aussicht, jemals die chinesische Staatsbürgerschaft zu erhalten. Chinese kann man nicht werden, man kann nur Chinese sein. Das Land versteht sich mehr denn je als Nation und nicht als Siedlungsgebiet. Doppelpässe sind nicht erlaubt. Legendär ist die Geschichte des amerikanischen Basketball-Stars Stephon Marbury, der mit den Beijing Ducks dreimal die chinesische Meisterschaft gewinnen konnte und daraufhin von der Regierung das Pendant einer Green-Card „honoris causa“ erhielt. In Zahlen steht China heute mit weniger als 800.000 registrierten Ausländern am Ende der Tabelle aller Industrieländer. Bei einer Gesamtbevölkerung von 1,36 Milliarden Menschen beträgt sein Ausländeranteil nur 0,06 Prozent.


In der Digitalisierung 

Europa um Längen voraus

Die digitale Revolution ist überall. Sie beginnt bei der umfassenden Netzabdeckung und endet beim Einsatz des Mobiltelefons für alle Erfordernisse des Alltags. Die Apps können fast alles: bezahlen, buchen, Taxi rufen, Flugticket ändern, Karten kaufen und stornieren, Restaurantbesuche bestellen und Rechnungen begleichen. Meist funktioniert das mit QR-Code. Auch im Museum oder in jeder Schaufensterauslage befindet sich eine Scan-Vorlage, mit der Erklärungen und Produktbeschreibungen sofort auf das Handy zu holen sind.

Die erhobenen Daten stören die Chinesen nicht, im Gegenteil. Ab 2020 sollen alle wesentlichen sozialen Interaktionen von jedem Beteiligten bewertbar sein und in ein einsehbares Profil einfließen. Für große Autos, weggeworfenen Müll, das Überqueren der Straße bei roter Ampel, Falschparken usw. gibt es Punktabzug, für soziales Engagement, freundliches Verhalten, regelmäßige Mietzahlung, Meldung verdächtiger Aktivitäten des Nachbarn gibt es Punkte hinzu. Ein Scoring, kombiniert aus Schufa, Ebay-Bewertungen und Facebook-Likes in etwa.

Geplant ist sogar, daß bei fortwährend schlechtem Punktestand und mangelnden Bemühungen um Besserung Visa für Reisen ins Ausland oder nach Macau und Hongkong verweigert werden können. 


Kultur und Identität sind 

der Schlüssel zum Erfolg

Die kulturelle Neugier und die Verehrung für westliche Tugenden kommt dem Konfuzianismus genauso entgegen wie dem Marxismus chinesischer Prägung. Es ist ein Pragmatismus, der das Milliarden-Volk organisiert. Jede Belehrung von außen verbietet sich eigentlich im Angesicht unserer Unfähigkeit zu jedweder Problemlösung. Hier kann man sich das Wünschbare noch nicht leisten, ist die Wirklichkeit noch zu hart.

Ideologie hat zu funktionieren oder sie ist keine Richtschnur. Mit der deutschen Haltung in der Migrationsfrage, mit Atomausstieg und geschichtlicher Selbstverleugnung kann man nur Kopfschütteln ernten. „Wir haben euch immer angehimmelt, euren Fleiß, eure Pünktlichkeit, Kultur und Erfindungen. Warum seid ihr nun so ein dummes Volk?“ Die Leute schwärmen von den Wagner-Festspielen in Bayreuth, von Dresden und den Berliner Philharmonikern. Wer kann, lernt Deutsch oder schickt seine Kinder zum Studium.


Sicherheit vor Demokratie 

Ist China nun ein aggressives Land? Das Sicherheitsbedürfnis gilt den Eliten, dem System und natürlich dem Land und seinen Interessen. In dieser Reihenfolge vermutlich. Allzu große Individualität ist nicht vorgesehen. Disziplin ist dabei nicht nur negativ. Noch immer schwimmen an die 330 Millionen Tonnen Plastikmüll jährlich den Jangtse herunter. Insgesamt sorgen zehn Flüsse für 95 Prozent dieser Verschmutzung in den Weltmeeren. Alle befinden sich in Asien und Afrika. Gesellschaftliches Sein und Bewußtsein bedingen einander eben doch.

Ohne Disziplin und Durchgriff, allein mit der Beschwörung von Einsicht und Freiheit geht auch auf diesem Gebiet „der große Sprung nach vorn“ zu langsam. 


Alleinerziehende brauchen meist die Hilfe der Eltern

Die eigene Familie, lange der Hauptbezugspunkt der Chinesen, gerät auch hier aus dem Fokus. Die Ein-Kind-Politik ist mittlerweile aufgehoben, auch weil sie mit der Verwestlichung überflüssig geworden ist. In dem Maße, wie Frauen zwischen Karriere und Kindern wählen können, entscheiden sie sich öfter als früher für den Beruf. Angefeuert wird diese Entwicklung auch vom schnellen Auseinandergehen der Schere zwischen Arm und Reich.

Man kann es an den Immobilienpreisen ablesen: die Entwicklung der Löhne hält mit der Preisentwicklung nicht Schritt. Zwei Einkommen sind mittlerweile – wie auch im Westen – notwendig, um den Lebensunterhalt der Familie zu sichern. Alleinerziehende brauchen meist die Hilfe der Eltern. Die Städte wachsen rasant, Mega-Baustellen findet man überall und kann so den Eindruck gewinnen, die Erwartungen an die Zukunft könnten größer nicht sein.

Aber diese Dynamik bekommt Risse, zehn Prozent Wachstum pro Jahr, und dies über Jahrzehnte, waren auch für China zuviel. Die Sorgfalt beim Bauen stand lange nicht im Vordergrund, es mußte vor allem schnell gehen. Heute steht Nachhaltigkeit auf vielen Gebieten deutlich höher im Kurs. Das große Umdenken betrifft auch eine kluge Familienpolitik und jahrhundertealte Traditionen. Denn beim BIP pro Kopf steht die Volksrepublik mit 8.100 US-Dollar noch immer weit hinter den USA mit 57.000 US-Dollar oder Japan mit 38.000 US-Dollar.


Das chinesische Jahrhundert hat erst begonnen

Tradition und Moderne finden sich wohl in keinem Land so schroff nebeneinander wie in China. Superlative gehören zur Selbstverständlichkeit: die längste Brücke der Welt, ein Eisenbahnkreuz, das in einer einzigen Nacht gebaut wird, oder ein Bahnhof in nur neun Stunden. Oft kommen schon die Bagger, und die Familie hat noch nicht einmal das kleine Haus geräumt. Wo die Gesellschaft das Primat ist, endet die individuelle Freiheit. Es ist eine völlig andere Werteskala. Eine gigantische Transformation, getragen von Pragmatismus, Fortschrittsglaube und kultureller Leidensfähigkeit.

Jedes Jahrhundert hat sich in der Vergangenheit sein Land gesucht. Um 1900 hätte es ein deutsches werden können, diese Chance wurde vertan. Das 21. Jahrhundert aber gehört ganz sicher China. Denn was man sehen und jeden Tag aufs neue spüren kann: dieses Land ist erst am Anfang seiner gigantischen Möglichkeiten.