© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/18 / 13. Juli 2018

„Von Führung besessen“
Der Frankreich-Experte Markus C. Kerber über Emmanuel Macron und die Blindheit der deutschen Politik gegenüber Paris
Moritz Schwarz

Herr Professor Kerber, sind Sie ein „Anti-Franzose“, wie etwa der Deutschlandfunk Sie nennt?

Markus C. Kerber: Nein, mitnichten. Aber angesichts meiner Erfahrung mit dem politischen Frankreich empfinde ich es als ein Anliegen, aufzuklären und einen unvoreingenommeneren Blick auf Frankreich zu ermöglichen, als jene uns vermitteln, die ob der wunderbaren französischen Kultur, Landschaft und Lebensart unsere politische Wahrnehmung des Landes vernebeln. 

Wer tut das? 

Kerber: Ich habe nichts gegen Frankreichfreundlichkeit, aber wenn sie, wie bei vielen deutschen Politikern und Journalisten, zu einer Art Berufskrankheit wird, ist das ein Problem.

Warum? 

Kerber: Weil sie dazu geführt hat, daß die Option einer politischen Zusammenarbeit mit Paris zum Dogma geworden ist. Wäre unsere Beziehung zu Frankreich wenigsten eine Vernunftehe – dann würden einige Politiker realpolitischer an diese Beziehung herangehen. Statt dessen wird systematisch beschwiegen, daß es seit den Elysée-Verträgen Frankreichs Absicht ist, Deutschland in ein neues „Karolingisches Reich“ unter Pariser Führung zu integrieren, um auf diese Weise Europa zu beherrschen.

Klingt das nicht nach einer frankophoben Verschwörungstheorie?

Kerber: Keineswegs, schauen Sie sich die französische Politik doch an: Sie zielt darauf, Deutschland in gewünschte Bahnen zu lenken. Dabei geht sie davon aus, daß sie, hat sie Deutschland im Griff, auch die anderen Staaten wie Holland, Belgien, Dänemark, Österreich etc. mit am Zügel hat. Paris zielt nicht nur auf Deutschland, sondern tatsächlich auf ganz Europa.

Die Frage bezog sich auf Ihre Behauptung, es gehe Paris nur darum, zu „herrschen“. 

Kerber: Ich habe über 35 Jahre Erfahrung in Frankreich gesammelt, habe dort gelebt und für deutsche wie französische Firmen gearbeitet: Anders als unsere Eliten sind die französischen Eliten noch wirklich politisch. Und anders als die unsere hat Frankreichs Außenpolitik diese Bezeichnung verdient. Anders als wir betreibt es Weltdiplomatie. Und vor allem: Frankreich definiert – knallhart in der Sache, vollendet in der Form – seine Interessen. 

Das tut Deutschland nicht? 

Kerber: Wo denn? Bei uns gilt doch: Deutsche Interessen sind europäische Interessen. Was aber sollen in bezug auf unsere Nachbarländer „europäische Interessen“ sein? Das konnte mir noch keiner sagen – schon gar nicht der Zwerg Nase der Außenpolitik, Heiko Maas.  Tatsächlich wollen wir so nur verbergen, daß wir es nicht wagen, unsere Interessen zu formulieren. Stattdessen hoffen wir, guter Willle beziehungsweise diesen zu bekunden reiche aus, um in Frieden mit unseren Nachbarn zu leben. Dieses Kopf-in-den-Sand-Stecken ändert aber nichts daran, daß die französischen Interessen – und übrigens auch die französischen Werte – in vielerlei Hinsicht mit deutschen Interessen und Werten kollidieren. 

Zum Beispiel? 

Kerber: Nehmen Sie die Europapolitik Präsident Macrons. Um was geht es dabei tatsächlich? Darum, noch mehr gemeinsame Finanztöpfe zu schaffen. Und zwar um den größten Nachkriegssieg Frankreichs, die Abschaffung der D-Mark, zu festigen und obendrein von den Deutschen bezahlen zu lassen! Daß Frankreich uns dabei umwirbt, ist kein Widerspruch. Das tut es aber nicht, weil Germania so schöne blaue Augen hat, sondern weil es uns für die Ausstattung der Transfer-Fonds braucht und weil wir bei jedem großen Topf ein Vetorecht haben. 

Im Grunde aber klagen Sie Frankreich trotzdem doch gar nicht an, oder? 

Kerber: Nein, denn so ist Realpolitik. Das Problem ist vielmehr die Frankreichhörigkeit unserer politischen Klasse. Im übrigen gilt: Projekte wie die EGKS, also die heutige EU, starten immer mit eigenen Absichten aller Beteiligten: Bei uns, nach dem Krieg wieder als gleichberechtigt anerkannt zu werden und über den gemeinsamen Markt Vorteile für unsere Wirtschaft zu erreichen. Bei den Franzosen, Kohle und Stahl der Deutschen – also die damals kriegswichtigen Industrien – unter Kontrolle zu kriegen und den Agrarsektor europäisch zu subventionieren. Und selbstverständlich ist nachvollziehbar, daß Paris bald auch anfing, uns für seine Zwecke einzuspannen – da man dort erkannte, daß man seine Großmachtallüren ohne die deutschen Ressourcen gar nicht mehr betreiben kann. Aber warum sollten wir uns darauf einlassen? Beispiel Außenpolitik: Es ist ein Glück für Deutschland, daß wir unsere Kolonien 1918 verloren haben. Frankreich dagegen ist bis heute der Gendarm Schwarzafrikas und spielt im Maghreb weiterhin eine besondere Rolle. Wollen wir uns damit tatsächlich identifizieren? Warum schicken wir die Bundeswehr nach Mali? Es ist schon schlimm genug, daß die ehemaligen Länder des Franc außerhalb Europas – die französischen Überseeterritorien und die Zone des afrikanischen CFA-Franc – Mitglied des Euro sind. 

Das ist ein Beispiel für „unterschiedliche Interessen“ – aber „unterschiedliche Werte“?

Kerber: Nehmen wir da den Umstand, daß die administrativen Strukturen der EU französisch geprägt sind. Vielleicht ist Ihnen das nicht klar: Doch schon der Bezeichnung „Kommissar“ liegt ein zentralstaatliches, französisches Verständnis zugrunde, wie wir föderalen Deutschen es nicht haben. Und so hat die Mammut-Bürokratie der EU kaum etwas mit dem zu tun, was wir uns unter einer Verwaltung vorstellen, die unabhängig, sachlich und nach verbindlichen Regeln funktioniert. Sie ist vielmehr nach französischem Vorbild total durchpolitisiert und funktioniert nach „geheimen“ Regeln. Denken Sie etwa an die jüngste Affäre um die Beförderung des Juncker-Mitarbeiters Martin Selmayr – wir halten so etwas für einen Skandal. Dabei sind solche Vorgänge lediglich typisch, sowohl für Brüsseler Verhältnisse, wie für eine französische Bürokratie. 

Aber hebt der „neue“ Staatspräsident Emmanuel Macron, als „Visionär Europas“, nicht alle diese Gegensätze nun auf?

Kerber: Macron ist von der Führungsrolle Frankreichs besessen. Während für unsere Eliten Führung etwas ist, für das man meint, sich genieren zu müssen. Natürlich ist Macron für Frankreich eine Chance – und zwar die letzte, das Land zu reformieren. Allerdings will er es damit nicht, wie man glauben mag, erneuern, sondern nur das Pariser Regime restaurieren. Denn nur noch das Gelingen seiner Reformen kann die Eliten, denen in Frankreich kaum noch ein Bürger vertraut, an der Macht halten und vor starken links- und rechtsradikalen Bewegungen retten – wie es sie bei uns in Deutschland gar nicht gibt. Natürlich bringt Macron dabei Verdienstvolles zustande, etwa seine Gesetzgebung gegen die Streiks bei der Staatsbahn. All das kritisiere ich nicht, sondern stelle es fest. Was ich aber kritisiere, ja mir als deutscher Staatsbürger verbitte, ist sein Zugriff auf die deutsche Souveränität. Während der Regierungsbildung teilte Macron öffentlich seine Präferenzen mit. Der einfältige Herr Schulz berichtete darüber stolz auf dem SPD-Parteitag. Macron will nichts weniger, als im Zuge einer Vertiefung der Währungsunion Deutschland dazu bringen, noch mehr seiner Souveränität aufzugeben. Mit seiner angeblich neuen Europapolitik setzt er also in der Sache die traditionelle französische Politik fort.   

Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung? Denn er gilt hierzulande doch als Franzose neuen Typs, der „endlich“ die EU ebenso über die Nation stellt wie wir Deutschen. 

Kerber: Zugegeben, sein europäischer Spin gibt Macron etwas Neues. Denn so – mit „Europa zuerst!“ – hat sich in Frankreich tatsächlich noch kein Politiker präsentiert. Aber dieser neuartige Anstrich ändert nichts daran, daß auch Macron darunter versteht, Europa soll französisch dominiert sein. Da ist wieder das Problem: Franzosen und Deutsche verstehen oder meinen sogar „Europa zuerst“ unterschiedlich. 

Aber die Franzosen haben ihn gewählt, also begrüßt die Mehrheit doch seinen neuen europäischen Stil.

Kerber: Macron wurde nicht deshalb gewählt, sondern weil er jung, frisch und unverbraucht erscheint und weil sowohl linke wie rechte Etablierte sich haben einreden lassen, eigentlich sei er ihr Mann.

Welche Beweise haben Sie für Ihre Behauptungen über Macrons Sicht auf Europa? 

Kerber: Alle Institutionen, die im Zuge seiner neuen Europapolitik entstehen sollen, etwa der Europäische Währungsfonds, sind gezielte Angriffe auf die deutsche Souveränität. Der EWF etwa soll, wenn es nach Macron geht, künftig selbst über die Vergabe finanzieller Mittel entscheiden. Im Klartext: EU-Bürokraten einer Verwaltung französischen Stils verteilen dessen Gelder – ohne daß der Bundestag zuvor zustimmen muß. Was als Überwindung nationaler Egoismen verkauft wird, ist in Wirklichkeit die Demontage unserer Demokratie. Tatsächlich träumen die Pariser Machthaber von zwei Dingen: das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe möglichst zu entmannen und den Deutschen Bundestag überflüssig zu machen.

Wie weit ist dieser Prozeß Ihrer Ansicht nach schon vorangeschritten? 

Kerber: Viel weiter als der Normalbürger glaubt. Denn tatsächlich wird das ganze Ausmaß dieses Verrats der deutschen Demokratie im Namen Europas, besonders durch Frau Merkel, sowie die so ermöglichte stille Einflußnahme der Franzosen in den Medien nicht dargestellt.

Warum nicht?

Kerber: Weil unser Bild von Frankreich überwiegend von Leuten gezeichnet wird, die gar kein Interesse daran haben, das chauvinistische Frankreich darzustellen. Denken Sie etwa an all die Korrespondenten oder Intellektuellen, die so gerne in den Pariser Bistros herumlungern und sich gegenseitig darin bestärken, „Elite“ zu sein. Oder jene, die sich in den sogenannten deutsch-französischen Institutionen tummeln und längst von den institutionellen Annehmlichkeiten der deutsch-französischen Freundschafts-Comedy vereinnahmt sind. Ein Musterbeispiel hierfür ist der lange bei uns überaus populäre ehemalige ARD-Frankreich-Korrespondent und langjährige „Tagesthemen“-Moderator Ulrich Wickert. Lassen Sie nur einmal die Titel seiner Bücher Revue passieren: „Und Gott schuf Paris“, „Frankreich muß man lieben“, „Frankreich, die wunderbare Illusion“, „Vom Glück, Franzose zu sein“, „Mein Paris“. Ich bitte Sie, was wollen Sie da erwarten? Oder nehmen Sie die FAZ-Korrespondenten Michaela Wiegel, die von Macron als einem „Visionär für Europa“ schwärmt, und Christian Schubert mit seinem Buch „Der neue französische Traum“. Das sind Leute, die sitzen quasi auf Macrons Schoß – und finden das auch noch schick, weil angeblich „europäisch“.

Aber Ihre Sichtweise, Herr Professor Kerber, ist doch nicht die einzig legitime. 

Kerber: Auf keinen Fall und natürlich kann ich auch verstehen, daß bei vielen Deutschen Begeisterung aufkommt. Denn eine Stadt wie Paris finden Sie bei uns nicht. Dort atmet man noch jene ungebrochene bourgeoise Ästhetik, die in Deutschland, besonders in Berlin, verlorengegangen ist. Dennoch darf man nicht übersehen, daß Macron dank dieser  deutsch-französischen Clique – wie Professor Henrik Enderlein vom Jacques-Delors-Institut oder Professor Marcel Fratzscher vom DIW, dank Heinrich-Heine-Institut, Deutsch-Französischem Institut, Berlin-Brandenburgischem Institut für Deutsch-Französische Zusammenarbeit etc. etc. – bei uns erheblichen Einfluß ausübt. Denn das alles sind nichts weiter als deutsch-französische Gesangsvereine. Die in Wirklichkeit nicht etwa einem Bedürfnis der Bürger entsprungen sind, sondern bei denen es sich um Kunstprodukte der etablierten Politik handelt und die von der französischen Politik wohlwollend beachtet werden. 

In Ihrem Buch „Europa ohne Frankreich? Deutsche Anmerkungen zur französischen Frage“, das 2016 neu aufgelegt worden ist, beschreiben Sie all das. Doch erschien es erstmals 1998. Welchen Informationswert hat ein zwanzig Jahre altes Buch? 

Kerber: Das Buch, das ursprünglich  bei Suhrkamp erschien und von dem Verleger Siegfried Unseld begeistert war, ist für die Neuauflage überarbeitet worden, behandelt aber vor allem Grundsätzliches. Die Jahre haben ihm nichts anhaben können. Ich war damals ein zorniger junger Mann. Der Zorn ist gewachsen. Das Büchlein ist so etwas wie ein deutsch-französisches  Sittengemälde. Es soll dazu anregen, darüber nachzudenken, ob Frankreich tatsächlich unser idealer politischer Partner ist. Ich mache dabei keinen Hehl daraus, daß ich es als Antwort auf die französische Herausforderung verstehe, mit der ich die Deutschen aufrütteln will – aufrütteln dazu, endlich politisch zu werden. Und politisch zu werden heißt, Interessen zu definieren, Gegner, Konkurrenten und Freunde klar zu unterscheiden und Freunde nicht nur deshalb als solche zu verstehen, weil sie sich lediglich so bezeichnen sowie Konkurrenten oder Gegner nur dann, wenn sie sich als solche zu erkennen geben.

Dann sind Sie im Grunde eifersüchtig auf die Franzosen?

Kerber: Nein, sondern ich sehe, was mit einem Charakter passiert, der sich nicht selbst achtet. Der schlimmste Schaden ist für mich deshalb sittlicher Natur: daß Deutschland als Staat, Nation und souveränes Volk nicht respektiert, sondern zum Objekt degradiert wird. Das kann ich mit meiner Selbstachtung als Deutscher nicht vereinbaren. Ich gebe zu: Mein Nationalbewußtsein hat sich erst in Frankreich in Opposition zum dortigen Chauvinismus geformt. Deshalb bin ich aber nicht zum Nationalisten geworden. Doch ein gesunder Patriotismus ist angesichts der französischen Politik für uns Deutsche unabdingbar. 

So wie Sie die Lage beschreiben, scheint es allerdings längst zu spät für eine effektive Abwehr des Pariser Zugriffs zu sein. 

Kerber: Es ist trotz vieler mißratener Kooperationen nie zu spät, das Ruder herumzuwerfen. So schlimm Pseudo-Kooperationen wie etwa Airbus sind, noch haben wir viele Möglichkeiten. Es stimmt zwar, eine Hand haben wir bereits im Fleischwolf. Aber es ist an uns, ob wir unseren Politikern erlauben, nun auch noch die andere hineinzustecken






Prof. Dr. Markus C. Kerber, der Ökonom und Jurist ist Absolvent der Pariser Ecole Nationale d’Administration (ENA) und lehrt öffentliche Finanzwirtschaft und Wirtschaftspolitik an der TU Berlin sowie als Gastprofessor an der Warschauer School of Economics und der Universität Paris II (Panthéon-Assas). Er war für mehrere Banken, das französische Finanzministerium und das Bundeskartellamt tätig, unter anderem als dessen Europa-Referent und Repräsentant im Beratenden Ausschuß der EU-Kommission für Wettbewerbsfragen. Außerdem leitet er die von ihm gegründete Denkfabrik Europolis in Berlin. Er veröffentlichte etliche Bücher, zuletzt „Mehr Wettbewerb wagen. Konzept zur Reform des Euro“, „Wehrt euch, Bürger! Wie die EZB unser Geld zerstört“ und „Europa ohne Frankreich? Deutsche Anmerkungen zur französischen Frage“. Geboren wurde er 1956 in Bielefeld.

Foto: Staatspräsident Macron, Bundeskanzlerin Merkel (2017 in Berlin): „Überwindung nationaler Egoismen? Nein, Angriff auf unsere Souveränität und Demontage der Demokratie“

 

 

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