© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/18 / 06. Juli 2018

Knapp daneben
Positive Langzeitperspektive
Karl Heinzen

Vor vier Monaten hat der Deutsche Bundestag einen Untersuchungsausschuß eingesetzt, der die Hintergründe des Anschlags auf einen Berliner Weihnachtsmarkt im Dezember 2016 aufklären soll. Nicht zuletzt gehört zu seinen Aufgaben, das Verhalten der verantwortlichen Behörden zu beleuchten. Dieses scheint nämlich, wenn man dem früheren Bundesanwalt Bruno Jost Glauben schenken möchte, durchaus optimierungsfähig gewesen zu sein. Seiner Aussage vor dem Ausschuß zufolge war die Berliner Polizei bereits im Sommer 2016 darüber im Bilde, daß sich der spätere Attentäter Anis Amri mit rasant wachsendem Erfolg als Drogenhändler betätigte. Die Ermittlungsergebnisse hätten ohne weiteres ausgereicht, einen Haftbefehl zu legitimieren. Dieser sei jedoch, warum auch immer, nie ergangen. 

Fast wäre mit Anis Amri mit Umweg über die Kriminalität der alte Gastarbeiter-mythos wahr geworden.

Jost ist anzumerken, daß er Ressentiments gegen das Berliner Landeskriminalamt hegt, weil es ihn angeblich in seiner Aufklärungsarbeit als Sonderbeauftragter des Senats auszutricksen versuchte. Aber auch in der Sache selbst sind seine Vorwürfe überzogen. Wollte man in Berlin gegen jeden, der mit Drogen handelt, mit einem Haftbefehl vorgehen, wären Polizei und Justiz heillos überlastet, und es stünde sowieso nicht genügend Gefängnisraum zur Verfügung. Wer Amris Telefonate belauschte, mußte zudem von einer positiven Langzeitperspektive ausgehen. Nach der rechtskräftigen Ablehnung seines Asylantrages legte er nicht die Hände in den Schoß, sondern versuchte der Apathie der Willkommenskultur durch unternehmerische Initiative zu entrinnen. Gerade als Drogendealer schien er die Werte der deutschen Zivilgesellschaft verinnerlicht zu haben. Anstatt die üppigen Erträge aus seinem Lieferservice zu verprassen, unterstützte er seine alte Mutter und plante offenbar, mit dem Ersparten ein Fuhrunternehmen in Tunesien zu gründen. Fast wäre mit ihm, wenn auch mit dem kleinen Umweg über die Kriminalität, der alte Gastarbeitermythos noch einmal Wirklichkeit geworden, daß man in Deutschland Geld verdient, um es daheim zu investieren. Warum er diese Lebenschance ausschlug, wird ein Rätsel bleiben.