© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/18 / 06. Juli 2018

Das Zählen der Fliegenbeine
Paul Noltes mißglückte Nipperdey-Biographie
Wolfgang Müller

Der 1992 einem Krebsleiden erlegene Thomas Nipperdey ist neben Ernst Nolte und Reinhart Koselleck der bedeutendste unter den nach 1945 wirkenden deutschen Historikern. Was berechtigt zu diesem Prädikat? War der Professorensohn nicht nur jemand, der die deutsche Nationalgeschichte des langen 19. Jahrhunderts vornehmlich als Geschichte seiner „Klasse“, des Bürgertums, schrieb, aber der doch nur ein Feld beackerte, auf dem viele ihre Furchen zogen?

Bereits in den 1990ern zeichnete sich ab, daß die drei Bände seines Monumentalwerks zur deutschen Geschichte von 1800 bis 1918 („Bürgerwelt und starker Staat“, 1983; „Arbeitswelt und Bürgergeist“, 1990; „Machtstaat vor der Demokratie“, 1992) ihren Wert über ihre Entstehungszeit hinaus behalten würden. Ein Konkurrenzunternehmen wie die seit 1987 erschienene „Deutsche Gesellschaftsgeschichte“ Hans-Ulrich Wehlers ist dagegen heute lediglich für Wissenschaftshistoriker von Belang, die den Zusammenhang von Geschichtsschreibung und Ideologie zwischen Bonner und Berliner Republik erforschen wollen.

Aufklärung darüber, was Nipperdey, der wie Ernst Nolte von der Philosophie zur Geschichte stieß, von Wehler unterscheidet, was ihn aus dem Hauptstrom der seit 1968 „Geschichte als Sozialwissenschaft“ traktierenden Generationsgenossen heraushob, warum der einzelgängerisch disponierte Gelehrte mit seinen Büchern ein großes Publikum erreichte – das wären nur ein paar der Fragen, auf die eine Biographie Antwort geben müßte. Paul Nolte (FU Berlin), der sich der „Geschichte eines Buches“ widmet, eben Nipperdeys deutscher Trilogie, stellt sich diese Fragen nicht. 

Trotz optimaler Voraussetzungen – ihm stand der noch im Privatbesitz befindliche Nachlaß exklusiv zur Verfügung – liefert er keinen Beitrag zu einer in den bundesrepublikanischen „Geist der Zeit“ eingebetteten Disziplingeschichte. Stattdessen versinkt er im Sumpf der Einzelheiten. Bereits im ersten Absatz kündigt sich an, was dann über 350 Seiten zum orgiastischen Fliegenbeinzählen gerät: „gut sechzehn Zentimeter Regalplatz“ beanspruchen die drei dicken Bände der „Deutschen Geschichte“. So geht es ermüdend fort, bis zur Ausbreitung der Verlagskorrespondenz über Papiersorten und die Gestaltung der Rückenschildchen. 

Paul Nolte: Lebens Werk. Thomas Nipperdeys Deutsche Geschichte. Biographie eines Buches. C. H. Beck, München 2018, gebunden, 368 Seiten, Abbildungen, 39,95 Euro