© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/18 / 06. Juli 2018

Nachhaltige Kreis-Meisterschaft
Vom Esoteriker zum Herrscher im Bildungsreich: Zur Rezeptionsgeschichte Stefan Georges und seines Kreises
Dirk Glaser

Enttäuscht bilanzierte Claude David, der Germanist der Sorbonne, die internationale, vor allem aber die bundesdeutsche Resonanz auf den 100. Geburtstag des „Meisters“: „En 1968, George est mal aimé.“ Das noch höfliche Urteil eines damals führenden George-Experten zeugte allerdings eher von französischer Courtoisie, als daß es etwas über das wahre Ausmaß der Unbeliebtheit des Dichters in diesem Gedenkjahr verriete. 

Denn tatsächlich lief es in der von der Studentenrevolte heimgesuchten Bonner Republik darauf hinaus, 1968 zum „Jahr des Gerichts“ über Stefan George werden zu lassen, zum „Schicksalsjahr“ für Leben und Werk. Dieses habe sich überdies, wie Ulrich Raulff lakonisch festhält („Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben“, München 2009, JF 43/09), in jener Ära des Kulturbruchs gleichwohl nur wie eine Episode in den letzten Akt der „längsten Epoche des deutschen, ja vielleicht des europäischen Geistes“ eingefügt.

Den härtesten Schlag teilte dabei Rudolf Borchardt aus, einer der sprachgewaltigsten Polemiker deutscher Zunge, der in den Feldzügen gegen das Heer seiner Feinde am liebsten den Morgenstern schwang. Welcher sich auch aus dem Grab heraus, über zwanzig Jahre nach Borchardts Tod, als fürchterliche Waffe erwies. Hatte doch 1967 seine Witwe Marie Luise Borchardt die im Herbst 1935 verfaßten „Jamben“ publiziert. Eine mit Versen in horazischer Tradition parierte Reaktion auf die von „braunen Steißgesichtern“ erlassenen Nürnberger Gesetze, wie der hochkonservative, mit religiösem Eifer antikes Erbe, „Königsberger Judentum der Kreuznahme“ und preußisches Deutschtum zelebrierende Rhetor der „schöpferischen Restauration“ höhnte. Im Zentrum stand dabei ein Donnerkeil gegen den „Mysterien-Meister“ George, dem er seit der Jahrhundertwende in Erzfeindschaft verbunden war.

Borchardts jambische Attacke gegen die „Unterwelt hinter Lugano“ (gemeint war Georges letztes Domizil Minusio, unweit Locarno) empfanden 1968 öffentlich noch sehr präsente Hüter des meisterlichen Erbes wie Georg Peter Landmann als „haßgeborene Schweinerei“. Eine verständliche Empörung in Anbetracht der Schmähung, das nationalsozialistische Neudeutschland stamme statt von Mutter und Vater „von der Tante“ ab. Sollte heißen: von der Tunte, von dem Homosexuellen George. Damit sei, so Raulff, das von Adolf Hitler verwirklichte „geheime Reich des Meisters in die Tanten- und Tuntenecke befördert worden“.

Diese Gleichsetzung von NS- und George-Staat, von Homosexualität und Hakenkreuz, wollte den Dichter unlöslich an Hitler ketten. Sie hätte durchaus das Zeug gehabt, George im Zuge der ins Kraut schießenden „Vergangenheitsbewältigung“ aus dem bildungsbürgerlichen Lektürekanon wie aus den germanistischen Lehrplänen zu eliminieren. Daß es anders kam, ist der Autorität Theodor W. Adornos mit zu verdanken. Der trat 1967, wenn auch mit nicht geringen Vorbehalten, für den „in Schuld verstrickten“, gemeinhin so stigmatisierten „präfaschistischen Antidemokraten“ ein. Was man immer gegen dessen lyrischen „Preis des Führertums“ vorbringen könne, so gab Adornos „rettende Kritik“ zu bedenken, gerade „das Abgründige in seinem Werk, künstlerisch Fragwürdigste, Ideologische“ sei doch „in gewissem Sinne entsühnt“ worden. Durch den versuchten Tyrannenmord seines „geistigen sohnes“ Claus von Stauffenberg. 

Als Erzieher der Deutschen wahrgenommen worden

Borchardts Verdammung und Adornos Absolution eröffneten neue Wege der George-Rezeption, die Stück für Stück die Zeitkindschaft des kanonisierten, aber immer weniger gelesenen Klassikers freilegte. Dabei mußte der von Borchardt inspirierte, von der US-Germanistik dominierte Forschungsstrang fast zwangsläufig in die Niederungen der „Gay and Lesbian Studies“ führen, wo sich auch Thomas Karlaufs Maßstäbe setzende Biographie („Stefan George. Die Entdeckung des Charisma“, 2007; JF 42/07) ausgiebig tummelt. Und noch die jüngste, in den Feuilletons dieses Frühjahr mit Behagen betriebene Skandalisierung des vom pädophilen Mißbrauch geprägten Alltags im Amsterdamer Castrum-Perigrini-Zirkel des selbsternannten George-Erben Wolfgang Frommel (1902–1986) verharrt in dieser Spanner-Perspektive. Ob eine für 2019 angekündigte Stauffenberg-Biographie Karlaufs dazu weiteres Material liefert, bleibt abzuwarten.

Als wesentlich fruchtbarer als solche Privatisierung erwies sich die an Adorno anknüpfende historisch-soziologische Verortung Georges und seines Kreises. Seit den 1980ern, als auch die Geschichte der Militäropposition gegen das NS-Regime erstmals auf breiter Quellenbasis wissenschaftlich kräftige Konturen gewann, ist der Dichter mehr und mehr als Erzieher der Deutschen wahrgenommen worden, dessen politische Durchschlagskraft vielleicht in der welthistorischen „Tat“ vom 20. Juli 1944 gipfelte, die aber keineswegs mit dem Untergang des realexistierenden „heiligen Deutschland“ endete. Die vielmehr, wie Raulffs Ausleuchtung des dichten Netzwerks überlebender „Folger“ vergegenwärtigt, wie Hellmut Becker und Georg Picht, ungeachtet heraufziehender Verheerungen, noch in den 1970ern bemüht waren, die Bonner Bildungspolitik an den elitären Idealen Georges auszurichten. 

In ihrer Summe untermauert die stattliche Reihe der Monographien zur Geschichte der in der Weimarer Republik an den Universitäten aufgebauten „Bildungsmacht“ des George-Kreises den erstaunlichen Befund, daß ausgerechnet ein mit steiler Pose als Esoteriker und Verächter des herrschenden „Geziefers“ angetretener Versemacher sich zum politisch erfolgreichsten deutschen Autor des 20. Jahrhunderts entwickelte, dem niemand „wirkungsgleich“ (Horst Seehofer) war.