© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/18 / 06. Juli 2018

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weißmann

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier konnte unlängst die restaurierte Villa bei Los Angeles, in der Thomas Mann einen Teil seines amerikanischen Exils verbrachte, der Öffentlichkeit übergeben und die ersten „Thomas-Mann-Fellows“ begrüßen. Das hat kaum Aufmerksamkeit erregt, und zwar weniger, weil Thomas Manns literarischer und menschlicher Rang so undiskutierbar feststünde, sondern weil er vergessen ist. Vergessen ist damit zugleich Manns Umstrittenheit. Gemeint sind nicht die Irritationen beim Wiederlesen der „Betrachtungen eines Unpolitischen“, sondern die Empörung die einmal auslöste, daß Mann die Bombenangriffe auf deutsche Städte genossen, den Antikommunismus zur „Grundtorheit“ des 20. Jahrhunderts erklärt und jeden, der es hören wollte, vor der Unbelehrbarkeit der Deutschen und der sicheren Wiederkehr der Nazis gewarnt hatte. Als in der Nachkriegszeit über die Ehrung Manns diskutiert wurde, erschien in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (Ausgabe vom 6. Juni 1950) ein Artikel Gerhard Nebels, der heute kaum noch vorstellbare Wertungen enthielt: Thomas Mann, hieß es da, wirke „als Exponent einer bis zur Dummheit gehenden Abneigung gegen Deutschland (…), und diesem Affekt, der ihn zu verzehren scheint, antworten aus dem Volk, dem er einmal angehörte und von dessen Schicksal er sich nicht 1933, sondern 1945 trennte, Verachtung und Wut. Dieser Schriftsteller ist eine Linse, die die Strahlen der Partisanen-Bosheit sammelt.“ Die damals schon erkennbare Neigung offizieller Stellen, Mann als leuchtendes Beispiel vorzustellen, habe mit „Instinktlosigkeit“ zu tun: „sie ist eine deutsche Eigenschaft, die sich zäh vom Wilhelminismus bis zum Protektorat durch alle Stürme hindurch erhält“. Mit dem „Protektorat“ war übrigens der Status Westdeutschlands als durch die Alliierten besetztes Land gemeint.

˜

Angesichts der Irritation über die Beliebtheit Erdogans unter türkischen Einwohnern Deutschlands: „Die Bundesrepublik hat kein Ausländerproblem, sie hat ein Türkenproblem. Diese muslimische Diaspora ist im Prinzip nicht integrierbar.“ (Hans-Ulrich Wehler, SPD-Unterstützer, Historiker, 2002)

˜

Gebet des Schlafgestörten: „Herrgott, laß mich schlafen ein / Und morgen frisch wie Weißbrot sein“ (Platon Karatajew)

˜

Die aktuelle Beschäftigung mit der Person Gustav Stresemanns bewegt sich auf erbärmlichem Niveau. Dieselben Kreise, die ihn gerade noch als Reaktionär, Chauvinisten und Kriegstreiber dargestellt haben, machen jetzt aus ihm einen Verfassungspatrioten avant la lettre und Vater der europäischen Einigung, bei Wegfall all dessen, was ihn als glühenden Patrioten kennzeichnete: Stresemanns Festhalten an der preußischen Überlieferung, seine gesamtdeutsche Orientierung, auch zwecks Verteidigung der „Stammesgenossen“ jenseits der Reichsgrenzen, sein Wille, in der Außenpolitik zu „Finassieren“, um die Bedrängung durch Polen einerseits, durch den „Würger“ Frankreich andererseits loszuwerden, die Elsaß-Lothringen-Frage prinzipiell offenzuhalten und über den Beitritt zum Völkerbund den Wiederaufstieg Deutschlands als Großmacht vorzubereiten.

˜

Éric Zemmour hat im Hinblick auf den Plan der spanischen Regierung, den ehemaligen Staatschef Franco aus seinem Grab in der Basilika des Valle de los Caidos exhumieren und an anderer Stelle beisetzen zu lassen, angemerkt, daß der gewöhnliche Gang der Dinge – daß mit zunehmendem zeitlichem Abstand die Gelassenheit wie die Sachlichkeit in der Beurteilung von Personen wachse – im Hinblick auf die politische Rechte keine Rolle spiele. Ganz im Gegenteil: Heute erscheine der Spanische Bürgerkrieg mit seinen komplizierten Fronten nur noch als Kampf der Anhänger des bösen Diktators auf der einen, der edlen Demokraten und hochgemuten Internationalisten auf der anderen Seite. Das sei das Ergebnis sehr erfolgreicher linker Geschichtspolitik. Weshalb sich auch niemand daran störe, daß Lenin nach wie vor in seinem Mausoleum am Roten Platz in Moskau liege.

˜

Bildungsbericht in loser Folge

CXVI: Der Mitte Juni veröffentlichte neueste schweizerische Bildungsbericht weist eine ganze Reihe von Ähnlichkeiten zwischen der Situation in der Eidgenossenschaft und der in Deutschland auf. Allerdings gibt es auch deutliche und bezeichnende Differenzen. So führt der ausgeprägte Föderalismus der Schweiz dazu, daß die Abiturientenquoten von Kanton zu Kanton sehr unterschiedlich ausfallen. Sie liegen in Genf, Basel-Stadt und im Tessin bei über 30 Prozent, in einzelnen Ostschweizer Kantonen aber nur bei etwa 14 Prozent. Der Bildungsbericht beklagt das und spricht von fehlender Chancengleichheit. Gleichzeitig müssen seine Verfasser aber zugeben, daß Kantone, in denen mehr als 20 Prozent eines Jahrgangs die „Matura“ erreichen, auch einen Großteil der Studienabbrecher stellen.


Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 20. Juli in der JF-Ausgabe 30/18.