© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/18 / 06. Juli 2018

Stolz und Vorurteil
Porträt: Sahra Wagenknecht liebäugelt mit einer linkspopulistischen Sammlungsbewegung
Matthias Matussek

Wie sie dort am Pult steht, aufrecht, ja stolz inmitten des Tumults, den sie mit ihrer Rede auf dem Parteitag der Linken ausgelöst hat, eine aristokratische Haltung, was als Attribut auf eine Sozialistin natürlich eine contradictio in adjecto ist, eher Marie-Antoinette als eines der Bastille-Weiber, die saßen eher unten und haben sie gehaßt. 

Erstaunlich in dieser Intensität und Mißtrauensbereitschaft, sie muß es gespürt haben und flicht all die populistischen Pflichtübungen ein, die finstere AfD fest im Visier und die „Faschisten“, und natürlich kommt die Brechtsche Warnung, daß „dieser Schoß noch fruchtbar ist“. Im edlen zitronengelben Kostüm steht sie da und spricht dann doch überraschend über die Malocher, die sich nach Schutz sehnen, nach einer Heimat. Die vollen Hörsääle an den Unis, führt sie aus, die sind ja ganz schön, aber wenn die abgehängten Malocher eher die AfD wählen als die Linke, „dann muß uns das zu denken geben“, sagt sie, „wir müssen denen mit Respekt begegnen und das nicht von oben herab“. 

Allerdings begegneten die Delegierten dann ihrem intellektuellen Stolz doch mit Vorurteilen zur Person, dieser kerzengeraden Flamme am Pult, dieser linken femme fatale der Talkshow-Runden, dieser klugen Bestsellerautorin, die nun auch noch eine neue linke Sammlungsbewegung gründen will. Wer seinen Kopf so hoch hält, muß sich nicht wundern, wenn er fällt. Die Delegierten fanden sie am Ende dann doch, ja was nun, ach ja: flüchtlingsfeindlich. Denn das ist die ideologische Scheide in diesen Tagen. Wagenknecht hatte tatsächlich Einwände gegen die linke Forderung, alle unterschiedslos hereinzulassen, als sie davon redete, daß es ja ohnehin nur die Stärksten schaffen, daß Hilfe vor Ort nötig sei und es eine Alternative geben müsse zu einer Situation, in der die Fähigsten das Land verlassen, aus dem sie kommen.

Lauter kluge Gedanken, die allerdings genau so auch in der AfD gedacht werden, inklusive der Gewißheit, daß nur die Nation als politische Einheit Schutz verspricht vor den Verwirbelungen und velofizerischen Zuspitzungen des globalen Finanzkapitals, weshalb Sahra Wagenknecht nach Ende ihres Vortrags noch einmal tüchtig in die Mangel genommen wurde von der gepiercten und hennaroten Abteilung der Partei, die ja seit der Eingliederung der West-Linken durchaus die Melodie bestimmt. „Ist eine Welt ohne Grenzen unter kapitalistischen Bedingungen tatsächlich ein erstrebenswertes Ziel?“ ruft sie aus. Eine alte leninistische Denkfigur steckt dahinter. Die vom Imperialismus als notwendiger Weiterentwicklung des Kapitalismus. Der Imperialismus, der in der Verschmelzung von Industrie- und Bankkapital den Finanzkapitalismus kreierte, das weltweit nach Absatzmärkten sucht und nach den günstigsten Produktionsbedingungen. 

Sie zitiert Lenin nicht, dafür aber zeitgenössische Ikonen der Linken, Bernie Sanders und den britischen Labour-Führer Jeremy Corbyn. Beide halten dafür, daß Grenzenlosigkeit lediglich den Milliardären gelegen kommt oder urbanen Vielfliegern, doch nicht dem Billiglohn-Malocher. Das wäre die marxistische Begründung für die AfD-Aversion gegen offene Grenzen.

Allerdings sind die Delegierten kaum auf diese Logik gefaßt. Auf den Imperialismus in der Gestalt der Globalisierung. Auf den Skandal, in Bangladesch T-Shirts zu Hungerlöhnen säumen zu lassen, die dann bei KiK oder anderen westlichen Billigläden zu Schleuderpreisen verkauft werden können an die Transferempfänger auch in der Linken.  Progressive Lifestyle-Experten der urbanen Intelligenz vergessen nämlich nur allzu gern, daß Grenzenlosigkeit auch bei uns zur Konkurrenz unter den Malochern sowohl im Niedriglohnsektor wie auf dem Wohnungsmarkt führt.

Wagenknecht zitiert in ihrer Rede Umfragen, nach denen die Mehrheit der Menschen im Land nicht mehr glaubt, daß es die Politik ist, die ihre Geschicke bestimmt, sondern die Wirtschaft.

Doch die Basis ist mit den Gedanken woanders. „Du zerlegst diese Partei“, ruft die Delegierte Elke Breitenbach. „Was sind denn für dich Flüchtlinge? Redest du etwa von Wirtschaftsflüchtlingen?“ Heißes Eisen!

Ein anderer verlangt Rechenschaft dort, wo sie Unschärfen gelassen hat. Die sollen jetzt beseitigt werden. „Sahra, du hast im letzten Jahr einen Zusammenhang zwischen Flüchtlingen und Terrorismus gesehen? Bist du immer noch dieser Meinung?“

Sie überlebt diese Inquisition aus dem Parkett, keine Frage, sie steht aufrecht, und ein paar Wochen später denkt sie in einem Essay auf Welt Online noch einmal über eine Sammlungsbewegung nach, eine „zur Wiedergewinnung der Demokratie“.

Moment, was ist das? Fundamentalkritik! „Die liberale Demokratie befindet sich in einer tiefen Krise. (…) Auch in Deutschland taumeln die ehemaligen Volksparteien von einer Wahlniederlage zur nächsten und erreichen gemeinsam gerade noch ein Drittel aller Wahlberechtigten.“ 

Wer wollte ihr da widersprechen? Ganz sicher nicht diejenigen, die gegen die Merkel-Regierung auf die Straße gehen oder auf Bierkästen steigen und Reden schwingen. Wagenknecht: „Es ist die Enttäuschung, Verärgerung, ja aufgestaute Wut erheblicher Teile der Bevölkerung über politische Entscheidungsträger, die seit vielen Jahren nicht mehr für sich in Anspruch nehmen können, im Auftrag oder auch nur im Interesse der Mehrheit zu handeln.“ 

Ich muß gestehen, daß ich eine Schwäche für Sahra Wagenknecht habe, nicht erst, seit ich sie in ihrem Büro besucht und sie mit einem Strauß Rosen zu ihrer Hochzeit mit Oskar Lafontaine sichtbar beglückte. Die Rosen: weißgelb. Die Vatikanfarben. Sie lächelte darüber, sie ist ein Fan von Papst Franziskus. 

„Ich find ja auch, das Ideal wäre, wenn man mit 18 den Mann seines Lebens trifft, dann braucht man sich nie wieder zu trennen, aber die Lebensrealität ist eine andere.“ Und dann sprach sie über gemütliche Filmabende mit Oskar in diesem Haus auf dem saarländischen Dorf. Oskar kocht gerne und gut, sie schien sich allmählich aus der Politik zurückziehen zu wollen.

Ebenso übrigens wie ihre Rivalin Katja Kipping – keine der beiden hatte Lust auf den Fraktionsvorsitz. Erst als der alte Bulle Gregor Gysi zurücktrat, fiel ihr der Wiedereinstieg in die Politik wenige Wochen später vor die Füße. 

Unser Zusammentreffen fand statt am Tag, als Dobrindts Verkehrsmaut zur namentlichen Abstimmung anstand, die Flure im Abgeordnetenhaus vierstöckig wie der Lichthof eines Gefängnisses mit schmalen Holztüren. Die Abstimmung wurde durch ein Tröten signalisiert, die Türen schwangen auf, Menschen traten hinaus in die Gänge wie bei einer Zellenkontrolle und begaben sich unterirdisch zum Plenarsaal, und ich verstand Wagenknechts Wunsch nach Schönheit und Provinz und Natur, nichts wie raus hier. 

Sie war herzlich und kultiviert, und ich glaubte den Traum von einem ganz anderen Leben in ihr zu erkennen, aber der schien sich schnell aufgelöst zu haben. Sahra Wagenknecht als politische Rentnerin? Als Ehefrau eines pensionierten einstigen Volkstribuns?

Ein naiver Gedanke. Diese Frau ist selbstverständlich ein political animal, sie stand ihr Leben lang in politischen Stürmen, bewundernswert aufrecht in allen Anfeindungen, die es ja durchaus geben konnte angesichts dieser Biographie, die noch bis in die letzten Stunden der DDR die Treue zum Regime beschwor, eine trotzige Parteigängerin, allerdings eine, die Goethes Faust auswendig kannte, beide Teile.

Womöglich hat sie schon damals gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Strategen Lafontaine, an diesem ganz anderen Plan gearbeitet, der mit den Erfolgen der Rechtspopulisten in den Nachbarländern allmählich Gestalt annahm, besonders mit dem Erfolg der „Liste Kurz“ in Österreich. Warum nicht eine ähnliche Sammlungsbewegung auf der Linken mit populärem Gesicht, also eine „Liste Wagenknecht“?

In ihrem Welt-Essay schreibt sie von den „liberalen und grünen“ Systemparteien, von denen nichts zu erwarten sei für die klassische Klientel, die Ausgebeuteten und Niedriglohnjobber, die rechts wählen, für die also, die Sigmar Gabriel als „Pack“ bezeichnet oder Hillary Clinton als „bag of deplorables“. Sie schrieb von der „glitzernden Hülle linksliberaler Werte“, vom „Image von Modernität, ja moralischer Integrität“, lauter „Wohlfühllabel, um die rüde Umverteilung von unten nach oben zu kaschieren“.

Auch solche Sätze stehen da, die jedem genderbegeisterten Langzeitstudenten das Blut in Wallung bringen müssen, „es widerspricht sich ja nicht, Ehe für alle und sozialer Aufstieg für wenige“, all diese Kulturkriege bringen denen, die ganz unten sind, nichts. Nada. Womit sie sowas von recht hat.

Sie ist kulturkonservativ, die Goethe-Leserin. Vom obsoleten Sozialismus als strategischem Endziel hat sich Sahra Wagenknecht offenbar verabschiedet. In ihrem Bücherregal stehen ihr Bestseller „Freiheit statt Kapitalismus“ und Ludwig Erhards „Wohlstand für alle“, ja, sie propagiert die soziale Marktwirtschaft – und den Schutz vor der Globalisierung durch die Nation.

Und sie weiß zu überzeugen. Auf einem Katholikentag stand ich einst mit ihr zu einer Talkshow zusammen – sie hat den Saal gerockt. So, wie sie es formulierte, lief es darauf hinaus, daß Jesus eigentlich das Programm der Linkspartei verkünden wollte und nur aus Zeitgründen die Bergpredigt hielt. Sie räumte ab unter den progressiven Katholiken, von denen nicht wenige nach Mitgliederformularen fragten.

Eine linkspopulistische Sammlungsbewegung „Wagenknecht“? Sie kann Populismus und ist klug und könnte den „Rechtspopulisten“ durchaus Konkurrenz machen.