© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/18 / 29. Juni 2018

Das entzauberte Gemeinwesen
Der Verfassungsjurist Horst Dreier analysiert die Vorzüge eines Staates ohne Gott
Felix Dirsch

Die Zukunft werde von vermehrten religionspolitischen Konflikten geprägt sein, so eine häufig zu hörende Aussage. Sie hätte in den 1970er Jahren noch Kopfschütteln hervorgerufen, wirkt heute aber fast schon trivial. Einer der Hauptgründe für diese Aktualität ist das zahlenmäßige Vordringen des Islam, den man als „heiße Religion“ (Rüdiger Safranski) bezeichnet hat. Bei einem größeren Teil der Gläubigen ist er im Alltag (generatives Verhalten und stärkere Binnensozialkontrolle) überaus wirkmächtig. Das Verhältnis zwischen Staat und Religionsgemeinschaften dürfte durch derartige Wandlungsprozesse nachhaltig berührt werden.

Der Würzburger Staatsrechtslehrer Horst Dreier, vor Jahren als Kandidat für ein Richteramt am Bundesverfassungsgericht im Gespräch, ignoriert solche alltagspolitischen Debatten weitgehend. Er kämpft für strikte Neutralität des Staates in glaubensspezifischen Angelegenheiten. Wichtig ist ihm zu betonen, daß „Staat ohne Gott“ nicht heiße „Gesellschaft ohne Gott“ oder gar „Einzelperson ohne Gott“; vielmehr sieht er die Farbenblindheit des öffentlichen Bereiches in puncto einer jedoch schwer zu definierenden Transzendenz als Voraussetzung für die Entfaltung eines persönlichen Glaubens. Insofern bedeute der säkulare Staat gerade in dieser Hinsicht einen „Freiheitsgewinn“.

Dreier weiß indessen, daß Frontstellungen unter multikulturellen Bedingungen kompliziert sind. Die alte Gemengelage der konfessionellen Parität, die staatskirchenrechtlich fein ausziseliert ist, gehört hierzulande längst der Vergangenheit an. Eifrig debattiert man über die Fortentwicklung des Staatskirchenrechts zum Religionsverfassungsrecht. 

Unvermutet gerät in manchen Kontroversen die einst weithin geteilte Präferenz für staatliche Säkularität unter Druck. Nicht zuletzt deshalb setzt sich Dreier mit den geistesgeschichtlichen Hintergründen der „Legitimität der Neuzeit“ (Hans Blumenberg) und des damit einhergehenden Kampfes um Religionsfreiheit ausführlich auseinander.

Wie sieht die neue Konjunktur des Sakralen in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, auch in der Jurisprudenz, konkret aus? Dreier geht unter anderem auf die vor Jahren aufsehenerregende Publikation von Hans Joas („Die Sakralität der Person“) ein. Sie ist Teil eines umfangreicheren „religious turn“ in den Geistes- und Kulturwissenschaften, zu dem auch die Studien von Otto Depenheuer, Ulrich Haltern und Dietmar Willoweit zählen. Sie wollen eine mythisch-religiöse Tiefenstruktur des modernen Staates herausarbeiten, wofür es nach Dreiers Ansicht keinerlei fundierte Hinweise gibt. Joas’ steile These betrachtet die „Sakralität der Person“ als Kern der Menschenrechte. 

Die Zahl der Belege – hier ist Dreier zuzustimmen – mutet indessen überschaubar an. Ohne Zweifel ist die politisch-juristische Transformation der stark individualistisch ausgerichteten Menschenrechte wenigstens zum Teil dem Säkularisierungsschub im Gefolge der Aufklärung zu verdanken.

Angesichts der Omnipräsenz des Böckenförde-Theorems quer durch verschiedene wissenschaftliche Disziplinen und in der Publizistik überrascht es nicht, daß Dreier sich ausführlich mit dieser Sentenz beschäftigt. Er arbeitet als ihre Quintessenz heraus, daß das demokratische Gemeinwesen eines gesellschaftlichen „Surplus“ bedürfe, da es sich nicht im formalen Funktionieren seiner Institutionen erschöpfen dürfe. Die Notwendigkeit eines solchen Weckrufes unterstreicht er.

Dreier verbleibt im verbindlichen Radius der verfassungsrechtlichen Deutung, sprich: im akademischen Schneckenhaus. Heiße Eisen spart er aus. Anders sein Kollege, der frühere Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde. Dieser zog anläßlich eines Vortrages vor der Carl-Friedrich-von-Siemens-Stiftung 2006 die Möglichkeit in Erwägung, Einwanderung von islamischen und islamistischen Kontingenten einzuschränken, und plädierte so für eine etwaige „Selbstverteidigung des säkularisierten Staates“. So weit wagt sich Dreier dann doch nicht aus der Deckung.

Horst Dreier: Staat ohne Gott. Religion in der säkularen Moderne. Verlag C. H. Beck, München 2018, gebunden, 256 Seiten, 26,95 Euro