© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/18 / 29. Juni 2018

Die Strömungen waren bereits vorher in Bewegung
Zur diesjährigen Tagung der Zeitgeschichtlichen Forschungsstelle Ingolstadt (ZFI) über die Mythen von 1968 und die aktuelle Verklärung Karl Marx’
Klaus Fritsch

Mythen und Legenden haben ein zähes Leben. Auch nach fünfzig Jahren spukt die Erzählung von den 68ern als den „Umgründern“ der Bundesrepublik noch in vielen Köpfen. Aktivisten der Revolte behaupteten, es seien damals die Fundamente gelegt worden zur „Bewältigung“ der NS-Vergangenheit, und man habe auch die Welle von Universitätsgründungen angestoßen. Nein, sagte Felix Dirsch auf der Frühjahrstagung der Zeitgeschichtlichen Forschungsstelle Ingolstadt (ZFI): „Beides reicht in die 1950er Jahre zurück; gleiches trifft auf vielfältige Inklusionsprozesse zu, etwa erweiterte Bildungsmöglichkeiten für Arbeiterkinder.“ Mehr Belege gebe es für die These, die Unruhen seien Teil großer Modernisierungsbewegungen gewesen, „Katalysatoren des Lebensstilwandels“, er hätte sich allerdings auch ohne das Begleitgetöse vollzogen. 

Dirsch begründete dies in seinem Vortrag („1968 – Anatomie einer Revolte und ihre Folgen“), während draußen vor der Tür die Antifa lärmte, auch mit starken Werteverschiebungen „in Richtung individueller statt kollektiver Präferenzen“. Auch Medien hätten ein verändertes Verhalten bewirkt. Sein Befund: „Jedoch förderten die geringe Bindewirkung der alten Strukturen und die Schwächung der herkömmlichen Institutionen bei vielen die Sehnsucht nach neuen Ligaturen. In das unübersehbare Vakuum strömte ein stark uminterpretierter Marxismus. Die neuen ‘Kirchenväter’ waren nicht zuletzt die Vertreter der Frankfurter Schule um Theodor Adorno und Max Horkheimer. (...) Man las die überlieferten Texte als Befreiungsideologie.“ 

Dirsch erinnerte an die Widersprüche, welche die 68er-Bewegung charakterisierten: Man pflegte einen hedonistisch-individualistischen Lebensstil und schätzte die amerikanischen „Befreier“ von 1945. Gleichzeitig leistete man sich wegen des Vietnamkrieges heftige Attacken gegen die USA. Einerseits verbreitete man eine antikapitalistische Grundhaltung, andererseits schwelgte man im Konsum. Einerseits verehrte man die oft jüdischen Vordenker der Frankfurter Schule, andererseits schreckten radikale Gruppen vor der Störung von Vorlesungen jüdischer Professoren in „antizionistischer Absicht“ nicht zurück. 

Von „1968“ führten nur bedingt Wege zur heutigen Linken, die größtenteils „Weltoffenheitsparolen“ predige, über die sich das Großkapital freue. Die Neue Linke lasse nationale Unterströmungen erkennen, wie sie zum Beispiel von Rudi Dutschke repräsentiert wurden. Vielen heutigen Linken sei die Konversion von Altvorderen der 68er-Bewegung zur Rechten verdächtig, ebenso beobachte man argwöhnisch die Nachahmung bestimmter Rituale durch „Neurechte“, die sich größtenteils auf seiten der „Identitären“ sammelten. Das Resümee des Vortragenden: „Die Protestierenden waren da erfolgreich, wo sie an die Inklusionsströmungen, die schon im Gang waren, anschließen konnten. Die Ziele der Führungskader, die politische wie wirtschaftliche Grundordnung zu zerschlagen, scheiterten jedoch. 1968 ist nicht 1933.“ 

Was lag näher, als bei dieser Tagung auch einen Blick auf das Karl-Marx-Jubiläum (200. Geburtstag) zu werfen. Der Politikwissenschaftler Konrad Löw zitierte den Jesuiten-Professor Oswald von Nell-Breuning, der in seinen letzten Lebensjahren seinen vielkritisierten Satz „Wir stehen auf den Schultern von Karl Marx“ nicht mehr wiederholt, sondern über seinen Trierer Landsmann gesagt hat: „Was Marx in der Welt angerichtet hat, das ist sicher beispiellos.“ Eine Anspielung auch auf die Leichenberge, die der Kommunismus zu verantworten hat. Einschlägige Tatsachen ließen keinen anderen Schluß zu, als daß die weltweite Verehrung von Marx nicht dem historischen Marx aus Trier, sondern einem Mythos gezollt werde. „Faktenorientierte Wissenschaft kann sich daran nicht beteiligen!“

Die ZFI-Tagung schloß mit einem engagierten Plädoyer des Publizisten Konrad Badenheuer für ein funktionierendes Nationalitäten- und Volksgruppenrecht in Europa. Auch in demokratischen Rechtsstaaten seien nationale Minderheiten von der Assimilation bedroht, wenn sie nicht gezielt geschützt würden. In einigen Ländern, so in Frankreich, fehle das Verständnis dafür bis heute, bedauerte der Referent. Das sei auch ein Grund, warum die EU zu diesem Thema „noch fast nichts“ beigetragen habe.