© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/18 / 29. Juni 2018

Exemplarisches Studium einer zerbrechenden Ordnung
Systemkrise im November 1918
(ob)

Die deutsche Novemberrevolution von 1918 stoße im Gedenkjahr 2018 „kaum mehr auf öffentliches Interesse“, registriert der Berliner Zeithistoriker Martin Sabrow (Merkur, 6/2018). Weil der Sturz der Monarchie und die Gründung der Weimarer Republik aufgehört hätten, als Negativfolie Bonner/Berliner Auseinandersetzungen zu dienen und als bundesdeutsche Identitätssicherung in Anspruch genommen zu werden. Dieser schwindende Aktualisierungsnutzen biete jedoch auch neue historische Erkenntnischancen. Zumal dann, wenn die Forschung von traditioneller Politik- und Sozialgeschichte auf Kultur- und Mentalitätsgeschichte umsteuere. Einmal abgesehen davon, daß dieser Vorschlag angesichts zahlreicher Studien zur Kulturgeschichte der ersten deutschen Republik überrascht, scheint Sabrow es mit einer bloßen Beschreibung mentaler Dispositionen und kollektiver Erfahrungen in einer Systemkrise bewenden lassen zu wollen. Will er doch nur wissen, wie dieser „radikale Umbruch“ sich sozialpsychologisch in politischen Neuorientierungen auswirkte. Er regt nicht die Frage an, was außer einer Kriegsniederlage dazu führen kann, daß Beherrschte ihren Herrschern das Vertrauen entziehen und revoltieren. Gerade für das Studium der Auflösung von Ordnungen käme aber gegenwärtig der Novemberrevolution große exemplarische Bedeutung zu und verschaffe ihr neues öffentliches Interesse. 


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