© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/18 / 29. Juni 2018

Das deutsche Volk ist keine Modelliermasse
Der Staatsrechtler Dietrich Murswiek sieht im Grundgesetz ein Bollwerk gegen die Abschaffung unseres Nationalstaatsprinzips
Wolfgang Müller

In einer scharf zugespitzten Textpassage verdichtet der emeritierte Freiburger Staatsrechtler Dietrich Murswiek nicht weniger als die deutsche und zugleich die europäische Schicksalsfrage des 21. Jahrhunderts: „Erlaubt es das Grundgesetz wirklich, daß die Bundesregierung eine weitgehende Änderung der Zusammensetzung des Volkes durch Einwanderung zuläßt oder gar das Volk nach ihren eigenen Vorstellungen modelliert? Etwa in dem Sinne, wie der damalige Finanzminister Wolfgang Schäuble es formuliert hat: Wir bräuchten die Einwanderung, damit wir nicht ‘in Inzucht degenerieren’. Oder im Sinne derer, die eine multikulturelle Gesellschaft wegen der Vorzüge von Vielfalt und Buntheit dem ihrer Ansicht nach eintönigen Nationalstaat vorziehen – bunte Republik statt Bundesrepublik. Erlaubt das Grundgesetz eine so grundlegende Umgestaltung Deutschlands, ohne das Volk zuvor zu fragen?“ Diese Aussage findet sich fast ein wenig versteckt in der Mitte eines mit 140 Anmerkungen gespickten vierzigseitigen Aufsatzes zum Thema „Staatsvolk, Demokratie und Einwanderung im Nationalstaat des Grundgesetzes“ (Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart, 66/2018).  

Demgegenüber sind alles andere Epiphänomene: augenblicklich hochkochende Kontrollverlust-Skandale um blutige Kollateralschäden der „Flüchtlingskrise“ ebenso wie die obszöne Unrechtspraxis des Durchwinkens in der Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) oder der inzwischen zur Regierungskrise eskalierte bizarre Streit zwischen CDU und CSU darüber, ob man einem von Berlin eingeladenen, auf Vollversorgung spekulierenden Migranten-Heer nicht besser die Einreise in das bundesdeutschen Sozialsystem verwehrt. Auch im Juni 2018 kamen weiterhin ungebremst 500 überwiegend junge männliche Personen pro Tag. 

Das sind jedoch nur Erscheinungen einer Katastrophenpolitik, die nicht erst im Sommer 2015 begann, die viele Väter und Mütter hat und die verschwörungstheoretisch gewiß nicht auf einen Nenner zu bringen ist. Deren Ursprünge sind im Bewußtseinswandel nach 1968 zu suchen. Ein Kulturbruch, der „von der verspäteten zur negierten Nation“ (Rupert Scholz) direkt hinauf in die dünne Luft des One-World-Utopismus führte. Angesteckt von ihren linksgrünen Aposteln, hat die frohe Botschaft der Mißachtung des Eigenen noch während der Ära Helmut Kohls die Programme aller etablierter Parteien kosmopolitisch grundiert, auf „Weltoffenheit, Vielfalt, Toleranz“ gepolt und die Stimmung angeheizt für die Abschaffung des vermeintlich antiquierten deutschen Nationalstaats. 

Ob die praktische Politik, die sich mit dem Maastrichter Einstieg in die Wirtschafts- und Währungsunion und mit dem rot-grünen „modernen Einbürgerungsrecht“ des Kabinetts Schröder universalistisch radikalisierte, um konsequent in die Schleusenöffnung vom September 2015 zu münden, nicht tatsächlich eine innovative, den Souverän nicht gewaltsam stürzende, sondern per Masseneinwanderung fast geräuschlos auflösende „Technik des Staatsstreichs“ (Curzio Malaparte) sei? 

Das Volk ist Schutzobjekt des Völkerstrafrechts

Diese These stellten schon im Herbst 2015 ehemalige Bundesverfassungsrichter wie Hans-Jürgen Papier und Udo Di Fabio, Staatsrechtler wie Rupert Scholz und Karl Albrecht Schachtschneider mehr oder minder akzentuiert zur Diskussion. Ihnen trat, wohl als Sprecher der wie stets opportunistisch schweigenden Mehrheit seiner Kollegen, der 87jährige Erlanger Emeritus Walter Leisner entgegen, der mit jugendlicher Verve das Grundgesetz als Verfassung eines Gemeinwesens nach französischem Vorbild, als Nukleus des Weltstaates interpretierte. Im Prinzip könne es demnach die ganze Menschheit in sich einschließen. Mithin sei es offen für die Ersetzung des deutschen Volkes durch Populationen beliebiger Herkunft. Es gebe keinen Artikel im Grundgesetz (GG), der einer Bundesregierung Änderungen der Zusammensetzung des deutschen Staatsvolkes verbiete (JF 51/16).  

Eine Ansicht, die Dietrich Murswiek nun mit besseren Gründen zurückweist. Aber bevor er zum Kern des Problems vordringt, muß er einen Haufen zeitgeistigen Schutts entsorgen, der seit 1968 auch den Fachdiskurs über Volk und Nation belastet. Denn die „Weltoffenen“ verteidigen ihre Meinungsmacht, indem sie „jedes Bestreben, nationale beziehungsweise ethnische Identitäten in Hinblick auf die Einwanderung zu bewahren, als verwerflich ansehen“. Der politisch-mediale Komplex versuche deshalb mit allen Mitteln, „Bemühungen um die Erhaltung des – ethnisch verstandenen – Volkes und der Nation als ‘völkisch’ oder gar ‘rassistisch’ zu denunzieren“.

Demgegenüber sei auf das Völkerrecht und das Völkerstrafrecht zu verweisen. Das Recht zur Behauptung der ethnisch-kulturellen Identität ist Bestandteil des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Darum ist das Volk Schutzobjekt des Völkerstrafrechts. Als Völkermord sanktioniert das Völkerstrafgesetzbuch nicht nur die physische Extermination eines Volkes. Vielmehr erfüllt den Tatbestand, wer in der Absicht, eine nationale Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören, sie Lebensbedingungen aussetzt, die geeignet sind, ihr körperliche oder seelische Schäden zuzufügen. 

Aus dieser Rechtsquelle speist sich seit Jahrzehnten das linksgrüne Engagement für indigene Völker und nationale Minderheiten wie den Kurden. Daß dieses Eintreten für das Selbstbestimmungsrecht, sofern es nicht um die Bewahrung der nationalen Identität der Deutschen geht, nie „rassistisch“ konnotiert war, dafür erinnert Murswiek an einen von allen Fraktionen des Bundestags im Juni 1996 gemeinsam eingebrachten Entschließungsantrag zur Verurteilung chinesischer Politik in Tibet. 

Unabänderlichkeitsklausel gilt auch für den Volksbegriff 

Diese ziele im konkreten Fall auf die „Zerstörung der Identität“ der Tibeter. Und zwar mittels „Ansiedlung und Zuwanderung von Chinesen in großer Zahl, um die tibetische Bevölkerung zurückzudrängen“. In dieser Resolution erkenne der Bundestag, im Einklang mit den völkerrechtlichen Axiomen der Vereinten Nationen unumwunden nicht nur an, daß ein Volk ein Recht auf Wahrung seiner Identität habe, sondern auch, „daß diese durch massenhafte Ansiedlung ethnisch fremder Menschen zerstört werden kann“.

Nachdem so die völkerrechtliche Legitimität der politischen wie juristischen Verteidigung von Volk und Nation geklärt ist, bleibt die Kardinalfrage, ob sie auch einen verfassungsrechtlichen Rückhalt hat. Leisner und vor allem Vertreter der jüngeren Generation wie der staatsrechtlich wenig profilierte Bonner Verwaltungsrechtler Klaus Ferdinand Gärditz (Jahrgang 1975) sehen in solchen auf das Grundgesetz gerichteten Erwartungen allerdings nur „angewandte Volksmythologie“. Das Volk des GG ist für sie das Staatsvolk, und wer dazugehört, bemesse sich ausschließlich nach Maßgabe des Staatsangehörigkeitsgesetzes, das Einbürgerung nicht von ethnisch-kulturellen Kriterien abhängig mache. 

Wenn das Grundgesetz trotzdem vom „deutschen Volk“ spreche, wie an exponierter Stelle in der Präambel, stehe es zur Disposition des Gesetzgebers, da die Präambel nicht unter den Schutz der nur den föderalen Rechts- und Sozialstaat umfassenden „Ewigkeitsgarantie“ des Artikels 79 III GG falle.

Dies ist jedoch eine Auslegung, die für Murswiek die beiden in der Präambel enthaltenen Grundentscheidungen des Parlamentarischen Rats, des Verfassungsgebers von 1949, für das „Deutsche Volk“ und für die „deutsche Nationalstaatlichkeit“, „oberflächlich positivistisch“ ignoriere. Das seien nicht Entscheidungen für ein beliebiges Agglomerat auf einem Deutschland genannten Territorium, sondern für „die Staatlichkeit eines konkreten, durch seine Kultur und Sprache geprägten Volkes“ gewesen. 

Indem der Verfassungsgeber „Deutsches Volk“, also sich selbst, in die GG-Präambel hineinnahm, begründete er innerhalb der Verfassung eine Rangordnung der Kompetenzen. In ihr ist die verfassungsgebende Macht (pouvoir constituant) den verfaßten Mächten (pouvoirs constitués), den Staatsorganen, übergeordnet. Sie ist damit deren verfassungsändernden Willen genauso entzogen wie die in der Unabänderlichkeitsklausel von Artikel 79 III GG genannten fundamentalen Verfassungsprinzipien.

Keine Ermächtigung zur exzessiven Einwanderung

Das Staatsvolk des GG ist keine Summe von Staatsbürgern, die lediglich durch die Verpflichtung zur Beachtung einiger für ihr Zusammenleben unentbehrlicher gesetzlicher Spielregeln verbunden ist. Das Subjekt der deutschen Demokratie ist vielmehr das Staatsvolk eines Nationalstaats, „der durch die ethnisch-kulturellen Spezifika charakterisiert ist“. Dessen objektive Merkmale (Abstammung, Sprache, Kultur, Geschichte, gelebte Werte) stiften die Gruppenidentität eines relativ homogenen Kollektivs. Das aber, bereits durch die Generationenfolge, in permanenter Bewegung ist und das als politische Willenseinheit nur dauerhaft bestehen kann, wenn es die nationale Identität ständig pflegt und erneuert. Andernfalls,  so warnte einst der nationalliberale Historiker Hermann Oncken, sei es mit dem Verlust des Identität garantierenden Kontinuitätsbewußtseins um staatliche Selbständigkeit und politische Existenz eines Volkes geschehen.

Diese materiellen Identitätskriterien bilden die Grenze der Einwanderungspolitik. Denn die Identität des deutschen Staatsvolkes bleibe nur erhalten, solange sie maßgeblich durch die ethnische deutsche Mehrheitsbevölkerung und durch ihre Kultur und Geschichte geprägt sei.

Aus der vom konkreten Volk abstrahierenden Sicht von Leisner und Gärditz wäre das Staatsvolk zwar immer noch das Staatsvolk, wenn es zu neunzig Prozent aus zu Rechtssubjekten degradierten Menschen-Atomen anderer Kulturen bestünde. Aber eben nicht mehr das deutsche Volk im Sinne des Grundgesetzes.

Die Bundesregierung und die politische Klasse sähen im deutschen Volk, ganz im Sinne der neoliberalen Auffassung von Völkern als Markthemmnissen, offenbar nur eine „Modelliermasse demokratischer Rechtssetzung“ (Gärditz). Mit dem GG vereinbar sei die Modellierung mittels Massenmigration nicht. Denn der Verfassungsgeber habe unveränderbar festgelegt, daß nur das deutsche Volk Subjekt der Demokratie sei. 

Die Regierung könne sich ihr Volk darum nicht nach ihren Vorstellungen zusammensetzen, da sonst die Regierung nicht mehr vom Volk hervorgebracht werde, sondern das Volk von der Regierung. Seit langem gehorche die Bundesregierung mit ihrer exzessiven Einwanderungspolitik dieser verfassungswidrigen Variante von Demokratie. Ermächtigt dazu sei sie nicht. Dazu benötige sie eine neue, die Selbstabschaffung legitimierende Grundentscheidung des Volkes mit dem Inhalt: „Wir wollen nicht mehr National-, sondern Vielvölkerstaat sein.“