© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/18 / 29. Juni 2018

Neigung zu Tiefsinn
Identität und Nationalbewußtsein: Eine Ausstellung in Paris präsentiert baltische Kunst
Karlheinz Weißmann

Wenn man in Frankreich zugesteht, daß die moderne Kunstgeschichte entscheidende Anstöße nicht nur aus dem eigenen Land erfahren hat, ist das immer noch bemerkenswert. Und um so bemerkenswerter, wenn dieses Votum im Rahmen einer Ausstellung getroffen wird, die das Musée d’Orsay in Paris zeigt. Allerdings wird dort gleichzeitig der exotische Charakter der Entwicklung betont, die sich fernab der mediterranen und romanischen Welt vollzogen hat, im Norden, der, wenn nicht barbarisch, dann doch fremdartig war und ist.

Die Ausstellung „Les Ames sauvages“ („Die wilden Seelen“) präsentiert baltische Kunst zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs. Die Namen der meisten Graphiker, Maler und Bildhauer, die hier präsentiert werden, dürften nur dem Kenner geläufig sein. Aber das besagt nichts gegen die Qualität dessen, was in Paris gezeigt wird und die Macht des Eindrucks, der von den Bildern ausgeht.

Das gilt etwa für das großformatige „Opfer“ von Kristjan Raud, das im Zugang schon auf die besondere Atmosphäre einstimmt, die viele Darstellungen vermitteln. Es zeigt vor einer weiten Ebene und einem lichten Himmel drei weibliche Gestalten in archaischer Tracht, die anbetend dastehen. Zu ihren Füßen sieht man ein kleines Feuer, das auf einer Steinplatte entzündet wurde.

Raud hat sein Thema der Welt der estnischen Legenden entnommen: Drei Witwen gleichen Namens sollen an dem heiligen Felsen Kaavere in der Mitte des Landes ein Opfer dargebracht haben, worauf unter ihm eine Quelle entsprang, die in Zukunft nicht nur den leiblichen, sondern auch den Wissensdurst der Menschen stillen sollte.

Im deutlichen Kontrast zu der eher traditionellen, fast naiv wirkenden Malweise Rauds stehen die expressiven, verstörenden Darstellungen von Oskar Kallis, der „Tanz des Lebens“ zum Beispiel, der eher als Totentanz erscheint. Stilistisch gesehen gibt es eine deutliche Nähe zwischen den Werken von Kallis und denen Rudolf Perles. Aber die Wirkung der Sonnen-Bilder Perles, von denen die Ausstellung mehrere zeigt, ist eine ganz andere. Denn Perle wollte vor allem die Pracht und Schönheit des großen Taggestirns auf immer neue Weise zur Geltung bringen.

Man kann die drei erwähnten Werke als repräsentativ für die Abschnitte betrachten, in die die Ausstellung gegliedert ist: „Der Mythos“, „Die Seele“, „Die Natur“. Denn die baltische Kunst strebte danach, durch Auseinandersetzung mit diesen Themen ihre zentrale Aufgabe zu bewältigen. Die sah man darin, den Völkern der Esten, Letten und Litauer zu einer klareren Vorstellung ihrer Identität zu verhelfen. Unter dem Druck der Russifizierung einerseits und dem nach wie vor starken Einfluß der deutschbaltischen Oberschicht andererseits hatte sich bis dahin ein Nationalbewußtsein kaum ausgebildet oder war in primitiven Formen steckengeblieben. Das wollte eine ambitionierte Schicht von Gebildeten und Künstlern ändern und suchte nach Orientierung nicht mehr nur in Sankt Petersburg oder Berlin. Vielmehr kamen Einflüsse aus Skandinavien – viele Bilder erinnern in bezug auf die Lichtwirkung an die der Skagen-Schule, im Hinblick auf die Motivwahl an Edvard Munch – und der westlichen Welt hinzu.

Dabei spielte unter den neueren Strömungen vor allem der Symbolismus eine Rolle, in den dann selbstverständlich auch Motive der Romantik einflossen. Aber die Verarbeitung war doch erstaunlich selbständig, bezog die Eigenarten der baltischen Landschaft ein, was die Einsamkeit der Wälder und der Ebenen, das Zusammenspiel von Meer und Küste betraf, die wiederentdeckte Volksüberlieferung mit ihren heidnischen Resten und zahllosen Sagen und die als typisch betrachtete Neigung zu Tiefsinn und Melancholie der Menschen des Ostseeraums.

Nach dem Zusammenbruch des Zarenreichs haben die Werke der baltischen Künstler ganz wesentlich dazu beigetragen, in den neu erstandenen, aber noch labilen Staaten Estland, Lettland und Litauen ein Selbstverständnis zu entwickeln, das eben nicht nur politisch, militärisch und wirtschaftlich, sondern auch ästhetisch seinen Ausdruck suchte und nach dem Ende des kommunistischen Intermezzos wiederentdeckt werden konnte. Um das angemessen zum Ausdruck zu bringen, hat man die Ausstellung im Musée d’Orsay eingebettet in ein „Baltisches Festival“ mit zahllosen Konzerten und Aufführungen. Dabei spielt auch ein deutscher Film eine prominente Rolle, der auf irritierende Weise die deutschbaltische Schicksalsgemeinschaft und deren katastrophales Ende zum Thema macht: Volker Schlöndorffs „Fangschuß“ von 1976.

Die Ausstellung „Ames sauvages – Le symbolisme dans les pays baltes“ ist noch bis zum 15. Juli im Pariser Musée d‘ Orsay, Rue de la Légion d‘Honneur, zu sehen. Der sehr empfehlenswerte Katalog liegt leider nur in französischer Sprache vor.

 www.m.musee-orsay.fr