© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/18 / 29. Juni 2018

An die Vorkriegszeit anknüpfen
Stadtgestaltung: Die Gesellschaft Historisches Berlin will die Freiflächen auf der Fischerinsel weitgehend historisch rekonstruieren / Wettbewerb für Architekturstudenten ausgeschrieben
Peter Möller

Nicht allein die verheerenden alliierten Bombenangriffe des Zweiten Weltkriegs haben das Gesicht der deutschen Städte vielfach bis zur Unkenntlichkeit entstellt, sondern der Wiederaufbau beziehungsweise die Abrißorgien der Nachkriegszeit. Diese oft verdrängte Tatsache wird in Berlin besonders augenfällig. Die ehemals geteilte deutsche Hauptstadt wurde sowohl im Westen als auch im Osten schwer verunstaltet oder wie Wolf Jobst Siedler es drastisch formulierte: gemordet.

Im Westen erfolgte dieser Raubbau an der architektonischen und städtebaulichen Substanz unter dem Deckmantel einer vorgeblichen Stadtsanierung oder der Schaffung einer autogerechten Stadt, im Osten mußte der Traum von der angeblich menschengerechten sozialistischen Stadt mit ihren überdimensionierten Freiflächen insbesondere in der historischen Mitte der deutschen Hauptstadt als Begründung für einen zerstörerischen Flächenabriß herhalten.

Ein eindrückliches Beispiel dieser Stadtzerstörung in Friedenszeiten ist die Berliner Fischerinsel. Diesen heimelig anmutenden Namen trägt der Teil der Spreeinsel, der südlich der Leipziger Straße liegt, die den Alexanderplatz mit dem Leipziger und dem Potsdamer Platz verbindet.

SED-Regime räumte verbliebene Häuser ab

Im südlichen Teil der Insel, die im Norden den Namen Museumsinsel trägt und in der Mitte (wieder) vom Berliner Stadtschloß geprägt wird, ragen heute sieben gewaltige Wohnhochhäuser aus DDR-Zeiten mit ihren 21 Stockwerken in den Himmel. Umgeben von Parkanlagen, die sich zumeist in einem für Berlin typischen zweifelhaften Zustand der Verwahrlosung befinden, deutet nichts mehr darauf hin, daß sich hier einst ein besonders pittoresker Teil Alt-Berlins befand. Was die Bomben und die Schlacht um Berlin von der historischen Bebauung übriggelassen hatten, räumte das SED-Regime Ende der sechziger Jahre ohne Rücksicht auch auf sieben verbliebene denkmalgeschützte Häuser rigoros ab, um Platz für die Hochhäuser zu schaffen, in deren Schatten das historische Straßennetz teilweise zu bloßen Trampelpfaden degradiert wurde.

Eine Ahnung von der ursprünglichen Bebauung bietet noch das gegenüberliegende Ufer des Spreekanals. Dort, am Märkischen Ufer, haben einige Häuser, wie sie auch für den Fischerkiez typische waren, überdauert. Heute ist dort ein Museumshafen untergebracht. Die zahlreichen historischen Frachtkähne, Barkassen und Schlepper verstärken das historische Flair und lassen erahnen, was für ein anziehender Ort die Fischerinsel mit ihrer einstigen historischen Bebauung heute hätte sein können – oder aber wieder werden könnte.

Entwürfe müssen sich an Richtlinien halten

Denn beflügelt vom Erfolg großflächiger Rekonstruktionen in mehreren deutschen Städten – von der „neuen“ Altstadt in Frankfurt am Main, über die Wiedererrichtung ganzer Häuserblocks im historischen Gewand rund um die Dresdner Frauenkirche bis hin zu ähnlichen Projekten in Potsdam (JF 50/17) oder Lübeck (JF 19/17) – gibt es auch für die Fischerinsel Pläne, mit denen der verlorengegangene städtische Charakter dieses Quartiers zurückgewonnen werden soll.

Anfang des Jahres hat die Gesellschaft Historisches Berlin (GHB), ein rühriger Zusammenschluß von architektur- und geschichtsinteressierten Bürgern, einen „Freien Wettbewerb zur Friedrichsgracht“ ausgeschrieben. Ziel dieser Ausschreibung, die sich in drei mit jeweils 1.000 Euro dotierten Kategorien an Berliner und Brandenburger Studenten der Fachrichtungen Architektur, Städtebau und Bauwesen richtet, ist die Wiedergewinnung des historischen Stadtraumes im südlichen Teil der Spreeinsel rund um die einstige Uferstraße Friedrichsgracht, also die möglichst weitgehende Rekonstruktion des historischen Straßennetzes und die Bebauung der bestehenden Freiflächen mit Wohn- und Geschäftshäusern im historischen Maßstab auf kleinteiligen Parzellen.

Grundlage hierfür ist ein von der GHB entworfener Bebauungsplan für die Fischerinsel, der versucht, die derzeitige städtebauliche Realität, zu der in einer der drei von der GHB vorgegebenen Entwurfssituationen auch die bestehenden Hochhäuser gehören, mit der historischen Bebauung in Einklang zu bringen. „Der einmal vorherrschende ‘Genius Loci’, das heißt die bauliche Mentalität und Qualität dieses Ortes, soll hier wiederentdeckt und für eine neue Bebauung verwendet werden, um so wieder eine Urbanität zu schaffen, die einer europäischen Metropole würdig ist“, formuliert die Gesellschaft Historisches Berlin das Ziel des Projektes in der Ausschreibung.

Um die Entwürfe in die richtige Richtung zu lenken und um zu verhindern, daß auf der Fischerinsel ein weiteres Experimentierfeld für selbstverliebte zeitgenössische Architekturentwürfe entsteht, hat die GHB eine Gestaltungsrichtlinie vorgegeben, an die sich alle Entwürfe halten müssen. So sollen die zu entwerfenden Häuser, die grundsätzlich nicht mehr als vier Stockwerke aufweisen dürfen, zur Straßenseite und zur Nachbarbebauung hin bündig geplant werden. Um jede Monotonie zu vermeiden, sollen nebeneinanderliegende Gebäude unterschiedliche Erdgeschoßhöhen aufweisen, um so eine heterogene Geschoßlinie im Straßenzug zu erzeugen. Zudem sind Satteldächer mit einer Neigung von maximal 45 Grad oder Mansardendächer vorgeschrieben.

Puristen dürften sich daran stören, daß in den Richtlinien zwar gefordert wird, von Glas-, Stahl- oder reinen Holzfassaden abzusehen, es gleichzeitig aber auch heißt: „Eine volle Rekonstruktion wird nicht als Entwurf angenommen.“

Diese Einschränkung trägt auch dem verbreiteten bau- und rekonstruktionsfeindlichen Klima des rot-rot-grün regierten Berlin Rechnung. In einer Stadt, in der es den politisch Verantwortlichen nicht einmal gelingt, aus Angst vor einer angeblichen Gentrifizierung genügend Wohnraum zu schaffen, wäre ein Projekt, das bewußt architektonisch an die Vorkriegszeit anknüpft, derzeit kaum zu vermitteln.

Die GHB hofft dennoch, mit den Wettbewerbsbeiträgen, die bis zum 30. April eingereicht werden mußten und später in einer Ausstellung präsentiert werden sollen, der Diskussion über die zahlreichen städtebaulichen Freiflächen in Berlins Mitte wieder neuen Schwung zu verleihen und damit einen wichtigen Schritt auf dem Weg zu einer Stadtreparatur des vielfach geschundenen Berlin zu gehen.