© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/18 / 22. Juni 2018

Knapp daneben
Streßbewältigung
Karl Heinzen

Die Studenten der Stuttgarter Universität Hohenheim scheinen gesundheitlich besonders labil zu sein. Insbesondere dann, wenn Prüfungen anstehen, geht die Seuche um. Vor wenigen Tagen brachen gleich 37 angehende Ökonomen eine Klausur im Fach Finanzwirtschaft ab, weil sie über Schwindel, Erbrechen oder Sehstörungen klagten. Wer auf Genesungswünsche der Universität gehofft haben sollte, wurde enttäuscht. Stattdessen weigerte sie sich, die vorgelegten Atteste anzuerkennen. Ganz unverständlich ist das Mißtrauen nicht. Alle Bescheinigungen hatten ungefähr den gleichen Wortlaut und wurden von ein und demselben Arzt ausgestellt. Dieser muß unter Studenten sehr populär sein. Allein in der Prüfungsphase des laufenden Semesters produzierte er Atteste im dreistelligen Bereich.

Die Angst, in einer Weichenstellung zu versagen, wird im Beruf ihr ständiger Begleiter sein.

Von einem fadenscheinigen Betrugsmanöver zu sprechen, ist dennoch verfehlt. Im Kern handelt es sich bloß um ein Mißverständnis. Junge Leute glauben heute, ohne größeren Aufwand erfolgreich sein zu können. Diese Fehleinschätzung wird ihnen durch die Gesellschaft suggeriert. Sie hören, daß auf dem Arbeitsmarkt ein erbitterter Wettbewerb um Personalnachwuchs tobt. Schon bald würden Unternehmen auch den größten Idioten rote Teppiche ausrollen, um sie beschäftigen zu dürfen. Welchen Sinn hat es angesichts dieser Lage, rätseln die jungen Menschen, daß an Schulen und Universitäten weiterhin gesiebt wird? Warum verlangt man, komplizierte Dinge zu lernen, und fragt das Ganze dann auch noch in stressigen Prüfungen ab? 

Die Antwort liegt auf der Hand: In Deutschland gilt Bildung immer noch als ein Wert an sich. Man will sich nicht damit begnügen, Menschen beizubringen, wie sie an Wissen gelangen, wenn sie dieses benötigen. Man will ihnen einen Bildungskanon aufzwängen. So lächerlich diese Tradition auch ist, sind es jedoch ausgerechnet die Prüfungen, die den Menschen Lebenshilfe bieten. Die Angst, in einer Weichenstellung zu versagen, wird im Beruf ihr ständiger Begleiter sein. Damit umgehen zu können, ist das einzige Ausbildungsziel von Gewicht.