© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/18 / 22. Juni 2018

Predigt für eine universelle Offenheit
Die US-Politikwissenschaftlerin Wendy Brown agitiert gegen die Notwendigkeit geschützter Grenzen
Thorsten Hinz

Die an der Berkeley-Universität tätige Politikwissenschaftlerin Wendy Brown will mit ihrem Buch die Sinnlosigkeit, Schädlichkeit und Ineffizienz von Mauern nachweisen, die zur Abwehr illegaler Einwanderung und von Terrorismus errichtet werden. 

Die amerikanische Erstausgabe erschien 2010. Brown hatte vor allem die Grenzbefestigungen der USA zu Mexiko sowie die Betonwand im Blick, mit der Israel sich gegen die Palästinenser-Gebiete abschirmt. Für die Europäer ist spätestens seit 2015 der Umgang mit dem afrikanisch-asiatischen Migrationsdruck zu einer Überlebensfrage geworden. Es ist deshalb eine kluge Entscheidung von Suhrkamp, eine Übersetzung des Titels herauszubringen. Browns Vorwort zur deutschen Ausgabe ist zu entnehmen, daß sie nicht Merkels Grenzöffnung, sondern die Kritik daran für problematisch hält. Trotzdem sind viele ihrer Überlegungen von so hoher Qualität, daß sie auch Lesern zugute kommen, die ihren Ausgangs- und Standpunkt komplett ablehnen.

Im ersten Kapitel, „Schwindende Souveränität, eingemauerte Demokratie“, beschreibt sie den Wunsch nach Grenzbefestigungen als Sehnsucht nach einer Chimäre. Für ihre Ablehnung führt sie weltanschauliche, moralische und politisch-pragmatische Motive an. Die nationalstaatliche Souveränität sei durch die Globalisierung unwiederbringlich dahin. Mauern verletzten das liberale Prinzip der „universellen Inklusion und Offenheit“. Sie erzeugten lediglich eine Illusion von Kontrolle und Sicherheit; in Wahrheit dokumentierten und beschleunigten sie deren Verfall. 

Als Beispiele für gescheiterte Befestigungsphantasien nennt sie die Maginot-Linie, den Atlantik-Wall und, natürlich, die Mauer in Berlin. Die gesellschaftlichen und individuellen Folgekosten seien enorm. Abschottung ermuntere zur Selbstjustiz und erzeuge einen „Homo munitus“ (lat. munio: befestigen, sichern schützen), ein „konformistisches, passives, paranoides und berechenbares Geschöpf“. Der Begriff wurde vom Deutschland-Historiker Greg Eghigian geprägt, der sich in seinem gleichnamigen, im Internet abrufbaren Aufsatz primär auf die Studien des Hallenser Therapeuten Hans-Joachim Maaz zur DDR-Psyche stützte.

Lesenswert sind vor allem das zweite und das dritte Kapitel über „Souveränität und Einhegung“ und „Staaten und Subjekte“. Brown referiert darin unter anderem Carl Schmitt, Giorgio Agamben und Chantal Mouffe (JF 18/17). Die staatliche Souveränität – die Fähigkeit zu unabhängigem Handeln nach außen und zur Machtausübung ohne Rechenschaftspflicht nach innen – sieht sie vor allem durch internationale Finanz-, Handels- und Migrationsströme unterminiert. Die meiste Macht sei im ortlosen Kapital versammelt, das gottgleich die Gesellschaft transzendiert. 

Auch die Sprache und Diskurse, konstatiert Brown in Anknüpfung an Foucault, seien eine viel realere Form von Machtausübung als die Befestigung von Grenzen. Diese sei lediglich eine „Theatralisierung von Souveränität“. Sicherheit sei weniger durch Einhegung als durch „Bewegung, Fluß, Offenheit und die Möglichkeit zur Inaugenscheinnahme“ zu erlangen.

Das alles ist bedenkenswert, liefert aber kein einziges Argument dafür, sich dem Migrationsdruck aus der Dritten Welt durch eine Politik der offenen Grenzen preiszugeben. Mauern sind kein Allheilmittel und nicht für die Ewigkeit, doch als Katechon, als Aufhalter, können sie ein Mittel zum Zeitgewinnen sein, bis der Migrationsdruck nachläßt. 

Hysterische weiße Männer verlangen nach Mauern

Browns historische Vergleiche überzeugen nicht: Die Maginot-Linie wurde nicht überwunden, sondern konnte 1940 von der Wehrmacht umgangen werden, weil Frankreich es versäumt hatte, sie entlang der Grenze zu Belgien zu verlängern. Der Erfolg der Invasion in der Normandie 1944 verdankte sich der Luftüberlegenheit der Alliierten. Und die Berliner Mauer hat – zynisch gesprochen – immerhin 28 Jahre lang den ihr zugedachten Zweck erfüllt, den DDR-Staat zu erhalten. Dieser Vergleich hinkt zusätzlich, weil es sich um eine Einsperrung zum Schutz eines dysfunktionalen Regimes handelte. Heute geht es darum, den Einbruch vormoderner Kulturen in die euroatlantische Lebenswelt zurückzuweisen.

Das Gefälle und der Konfliktstoff zwischen den unterschiedlichen kulturellen, politischen und sozialen Ordnungen spielen in Browns Buch keine Rolle. Samuel Huntington wird nur kurz und abwertend erwähnt. Es bleibt nebulös, welche pragmatische Alternative die Autorin sich vorstellt. Es läßt sich nun mal nicht bestreiten, daß die in der Tat gewaltige Mauer, welche die Israelis gezogen haben, die Zahl der Selbstmord-attentate radikal gesenkt hat. Ebenso ist es eine Tatsache, daß in den osteuropäischen Ländern, die sich der muslimischen Migration verweigern, keine islamistischen Anschläge stattfinden. Die Bevölkerungsexplosion in der Dritten Welt und der Mißbrauch der Migration als Waffe durch korrupte oder kleptokratische Machthaber bleiben ebenfalls unerwähnt. Die vagen Plädoyers der Autorin laufen auf ein Erdulden und auf Selbstaufgabe hinaus.

Brown ist die Lebensgefährtin der feministischen Philosophin Judith Butler, was erwähnenswert ist, weil sie im vierten Kapitel unter Zuhilfenahme von Sigmund und Anna Freud „(das) Verlangen nach Mauern“ aus der „hysterischen Zwangsvorstellung“ gekränkter (weißer) Männer herleitet, die ihre „Konstruktion des Fremden“ aus „der Materie von Einwanderern, Drogenhändlern und Terroristen“ imaginierten. Dieses konstruierte Monster sorge in ihrer Einbildung für die „Verunreinigung“ und „Entmännlichung einer durchlässigen nationalen und individuellen Subjektivität“. Wer Mauern baue, wolle die von „Verletzlichkeit und Penetrabilität“ gekennzeichnete „verweiblichte nationale Subjektkonzeption“ bekämpfen. So versandet die politische Reflexion vollends im feministischen Abrakadabra. Schade drum.

Wendy Brown: Mauern. Die neue Abschottung und der Niedergang der Souveränität. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018, gebunden, 260 Seiten, 28 Euro