© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/18 / 22. Juni 2018

Recht haben und recht bekommen
Verbraucherschutz: Der Bundestag billigt Gesetz zur Musterfeststellungsklage / Mehr als eine „Lex Volkswagen“ anläßlich des Dieselabgas-Skandals?
Dirk Meyer

Die zuständige Staatsanwaltschaft Braunschweig hat im Diesel­skandal ein Bußgeld von einer Milliarde Euro gegen Volkswagen verhängt. Die Summe setze sich aus „dem gesetzlichen Höchstmaß einer Ahndung“ in Höhe von fünf Millionen sowie „einer Abschöpfung wirtschaftlicher Vorteile“ in Höhe von 995 Millionen Euro zusammen, erläuterte Oberstaatsanwalt Klaus Ziehe. „Wir können ja den Konzern nicht verarmen lassen.“ Das Geld fließt in die niedersächsische Landeskasse.

Dies hat den Kampf David gegen Goliath im deutschen Rechtssystem erneut offensichtlich gemacht. Während VW in den USA jedem Käufer umgerechnet zwischen 5.700 und 13.000 Euro zahlen muß, scheint der deutsche Kunde mit einer zweifelhaften Software-Aktualisierung schlecht bedient. Bleibt es dabei, so belaufen sich die Gesamtkosten für VW in den USA auf 20 Milliarden Euro, während in Deutschland neben dem Bußgeld für die Nachrüstung nur etwa weitere 240 Millionen Euro anfallen. Würden die 2,4 Millionen deutschen Kunden Ansprüche von 6.000 Euro durchsetzen können, so würde das VW etwa 14,4 Milliarden Euro kosten. Was sind die Gründe für diese Diskrepanz?

In den USA sind Sammelklagen zulässig. Spezialisierte Anwaltskanzleien können ohne Mandat der Betroffenen klagen und erhalten im Erfolgsfall bei mehreren tausend Geschädigten sehr hohe Gesamthonorare. Es ist dort eine regelrechte Klage-Industrie entstanden, die teils abseits relevanter Rechtsverstöße den Rechtsfrieden gefährdet und letztlich zu Unsicherheit und hohen Kosten für die Unternehmen und Verbraucher führt. In Deutschland und vielen EU-Staaten muß jeder Betroffene in Einzelklagen sein vermeintliches Recht beanspruchen. Gerichts- und Anwaltskosten, gegebenenfalls über mehrere Instanzen, bergen ein hohes Prozeßrisiko.

Der Zugang der Bürger zum Recht ist elementar

Am Beispiel VW stehen der Gegenseite zentrale Rechtsabteilungen und Anwaltskanzleien zur Hilfe, die in den verschiedenen Einzelprozessen Informationen und Rechtsgutachten zur Verfügung stellen. Lediglich ein bis zwei Prozent der VW-Geschädigten haben Ansprüche vor Gericht geltend gemacht.

Der Zugang zum Recht ist in einem Rechtsstaat elementar. Unter dem Aspekt der Gerechtigkeit soll ein Schaden ausgeglichen werden. Unter Wohlfahrtsaspekten entstehen Anreize, den Schaden gar nicht erst entstehen zu lassen. Gerade bei geringen Streitwerten des Einzelfalles, bei komplizierter Beweisführung und hohen Belastungen der Gerichte durch eine Vielzahl von Geschädigten wäre eine Gruppenklage hilfreich. Ähnlich gelagerte Streitfälle sind unter anderem bei Strom-, Handy- und Bankdienstleistungen sowie im Miet- und Reiserecht anzutreffen. Sowohl seitens der EU-Kommission wie auch seitens des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) war der Dieselskandal Anlaß für entsprechende Initiativen.

Mit den Worten „Betrügen darf nicht so billig sein“ stellte EU-Justizkommissarin Vera Jourová im April einen Gesetzesvorschlag zur Sammelklage vor. Diese zivilrechtliche Klage verschafft bei Erfolg nicht nur dem Kläger Ansprüche, sondern allen Betroffenen eines vergleichbaren Sachverhaltes – unabhängig, ob diese selbst geklagt haben. Um jedoch keine amerikanischen Verhältnisse zu schaffen, sollen nur Verbraucherverbände klageberechtigt sein, die nicht profit­orientiert arbeiten und die außerdem ihre Finanzierung offenlegen müssen.

Ist der Streitwert pro Fall so gering, daß der Aufwand einer Entschädigung an den Verbraucher unverhältnismäßig hoch wäre, soll das Geld an gemeinnützige Organisationen gehen. Auch können die Verbraucherverbände von den Prozeßkosten freigestellt werden, um ihnen Klagen zu erleichtern. Die konkrete Ausgestaltung der neuen Regelungen müssen die jeweiligen Mitgliedstaaten vornehmen – für eine einheitliche europäische Sammelklage hätte die EU keine Kompetenz.

Industrie und Handwerk lehnen die Initiativen ab. So wird eine Klage-Finanzierung durch Dritte, die an der Schadenersatzsumme beteiligt werden, kritisch gesehen. Die Kommission fordert lediglich eine Offenlegung. Auch soll der Kläger den Gerichtsstandort aussuchen können. Zwar würde eine Schadenersatzklage in Rumänien keine direkt bindende Wirkung für Deutschland haben, doch würde die Beweislast faktisch umgekehrt. Das beklagte Unternehmen müßte hier seine Unschuld belegen.

Vergangenen Donnerstag hat der Bundestag die mit dem Kommissionsvorschlag konforme Musterfeststellungsklage beschlossen. Im Unterschied zur Sammelklage stellt ein Gericht zentral Tatsachen fest („Muster“), auf die sich klagende Verbraucher in Einzelprozessen berufen können. Den Schadenersatz müssen sie schlußendlich individuell durchsetzen. Als Schutz vor Mißbrauch soll ein Klageregister eingerichtet werden, in das sich zu Beginn mindestens zehn betroffene Verbraucher und nach zwei Monaten 50 Betroffene eingetragen haben müssen, damit eine erstinstanzliche Entscheidung bereits vom Oberlandesgericht gefällt werden kann.

Klageflut durch Strohmann-Verbrauchervereine?

Zu den 75 klageberechtigten Non-Profit-Organisationen zählen Verbraucherzentralen und Mieterschutzverbände, nicht aber die Deutsche Umwelthilfe (DUH). Die Bundesregierung verspricht sich von ihrem Gesetz erhebliche Einsparungen bei den Amtsgerichten. So rechnet sie jährlich mit etwa 450 solcher Musterfeststellungsklagen. Von den Grünen wird kritisiert, daß der Zugang nur Verbrauchern, direkt nicht aber Unternehmen und Handwerksbetrieben offenstehen soll, die doch auch vom Diesel-Skandal betroffen seien.

Seitens der CDU werden Klagen von Kanzleien über „Strohmann-Verbrauchervereine“ aus dem EU-Ausland befürchtet, denen mit weiteren Restriktionen vorgebeugt werden soll. Rechtsanwaltskanzleien geben hingegen zu bedenken, daß die in diesen Prozessen erforderlichen Sachverständigengutachten und die damit verbundenen Kosten Verbraucherverbände aufgrund ihrer mangelnden finanziellen Ausstattung von Musterfeststellungsklagen zurückschrecken lassen werden. Das Gesetz tritt gerade noch rechtzeitig zum 1. November in Kraft, denn auch die auf drei Jahre erweiterte deliktische Klagefrist läuft für sie spätestens zum 31. Dezember ab.






Prof. Dr. Dirk Meyer lehrt Ökonomie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.

Abmahnverein Deutsche Umwelthilfe

Der Deutsche Alpenverein (DAV) ist mit 1,2 Millionen Mitgliedern der größte Naturschutzverband in Deutschland. Der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) zählt 584.000 Mitglieder und Förderer, der Deutsche Jagdverband (DJV) 245.000. Der Naturschutzbund (Nabu) hat 575.000 Mitglieder – neunmal soviel wie die Grünen. Sie alle sind anerkannte Umwelt- und Naturschutzvereinigungen. Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) hat weniger als 300 Mitglieder – dennoch ist der Abmahnverein als „Umweltvereinigung“ anerkannt, was das Recht zur Verbandsklage beinhaltet, sowie klageberechtigter Verbraucherschutz­verband. Ihr „Brot-und-Butter-Geschäft sind Unterlassungserklärungen und Vertragsstrafen“, berichtete die FAS. „Im Jahr 2014 nahm die Umwelthilfe mit den Verbandsklagen 2,32 Millionen Euro ein, das waren 1.265 Abmahnungen und 438 Gerichtsverfahren – insgesamt ein Drittel des Etats. Bei der lukrativen Musterfeststellungsklage geht die DUH hingegen vorerst leer aus: Wegen ihrer zu geringen Mitgliederzahl kann sie nicht vor Gericht ziehen. (fis)