© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/18 / 22. Juni 2018

Und sie vertagen sich doch wieder
Krise in der Union: Der Streit der beiden Schwesterparteien über das Asylrecht dominiert das politische Berlin
Jörg Kürschner

Wenn wir in Bayern mit einer Sache in besonders hohem Maße zufrieden sind“, erklärte der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer, „dann sagen wir: Paßt scho’.“ Gut vier Monate nach Abschluß der Koalitionsverhandlungen paßt nichts mehr zwischen CDU und CSU. Und Seehofer versuchte zu Wochenbeginn auch gar nicht den Eindruck besonderer Harmonie zu erwecken. „Es geht nicht um 14 Tage, es geht um einen grundlegenden Dissens“, beschrieb der Bundesinnenminister die zwischen den „Schwesterparteien“ höchst angespannte Lage. 

Mit der Rückendeckung des Parteivorstands hat er Bundeskanzlerin Angela Merkel eine Frist von zwei Wochen („Anfang Juli“) gesetzt, um auszuloten, welche europäischen Länder Flüchtlinge zurücknehmen, die dort bereits registriert worden sind. Eine Gnadenfrist verbunden mit weiteren Angriffen auf Merkels Politik der offenen Grenzen, um die eigene Position zu untermauern. „Wir haben die ganze Thematik Migration noch nicht wirklich im Griff“, betonte er mit düsterer Miene. Es habe zwar Verbesserungen gegeben, aber er könne der Bevölkerung nicht sagen, daß „Rechtssicherheit gewährleistet“ sei. Welch ein spätes Eingeständnis. Das wußte die Bevölkerung längst, wie Meinungsumfragen belegen. Da lag Seehofers schwerste Attacke auf die CDU-Chefin bereits drei Tage zurück. Es sei die CDU gewesen, „die mit der Flüchtlingsentscheidung 2015 die Spaltung Europas herbeigeführt hat“. Ein Satz wie ein Peitschenhieb.

Indirekt mit dem Rauswurf gedroht

Zu Merkels Politikstil gehört es, solche Provokationen an sich abprallen zu lassen. Äußerlich gelassen trotz des Machtkampfes, inszenierte sie sich als überzeugte Europäerin. Im „Umfeld“ des EU-Gipfels am 28./29. des Monats werde sie mit den europäischen Partnern über bilaterale Vereinbarungen sprechen. Anschließend werde im „Lichte des Erreichten“ entschieden. Wo Seehofer in München ungewohnt deutlich wurde, setzte Merkel in Berlin auf Zeitgewinn. Bei einem Scheitern werde es keinen „Automatismus“ für die von Seehofer geforderte Zurückweisung von Flüchtlingen geben. Am 1. Juli würden die CDU-Gremien das Ergebnis beurteilen. In der schwersten Krise ihrer über 12jährigen Amtszeit hat die CDU-Chefin ihre Partei wiederentdeckt. Zusammen mit ihren Getreuen, den Ministerpräsidenten aus Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und Hessen (Laschet, Günther, Bouffier) hatte sie das verpatzte WM-Auftaktspiel der deutschen Elf verfolgt. Ihre Kritiker, die Regierungschefs von Sachsen-Anhalt und Sachsen (Haseloff und Kretschmer) gehörten nicht zur Runde im Konrad-Adenauer-Haus. 

Seehofer wiederum erhöhte den Druck auf Merkel, stellte im Falles des Scheiterns einer europäischen Lösung klar, daß es Zurückweisungen an der deutschen Grenze geben müsse. „Ich bin jedenfalls fest entschlossen, daß dies realisiert werden soll, wenn die europäischen Verhandlungen keinen Erfolg bringen“. Seehofer könnte dabei sein Amt als Bundesinnenminister verlieren, wäre dann nur noch ein CSU-Chef ohne parlamentarisches Mandat. Denn seine Gegenspielerin drohte ihm indirekt mit dem Rauswurf aus dem Kabinett. „Wenn die Maßnahme in Kraft gesetzt würde, dann würde ich sagen, ist das eine Frage der Richtlinienkompetenz.“ In Artikel 65 des Grundgesetzes heißt es: „Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung.“ Seehofer reagierte mit Spott: „Mir gegenüber hat sie mit der Richtlinienkompetenz nicht gewedelt. Wäre auch unüblich zwischen Parteivorsitzenden.“

Der vertagte Asylstreit hat das Zeug, die Koalition aus CDU, CSU und SPD zu sprengen – gut hundert Tage nach ihrem mühsamen Zustandekommen. Würde die Kanzlerin ihrem Innenminister die rote Karte zeigen, gilt ein Rückzug der übrigen CSU-Minister Scheuer (Verkehr) und Müller (Wirtschaftliche Zusammenarbeit) als sicher. Die Koalition wäre gescheitert. Da CDU und SPD ohne CSU im Bundestag nicht über eine absolute Mehrheit der Mandate verfügen, könnte Merkel versuchen, die Grünen mit ins Regierungsboot zu holen. Die Ökopartei, die die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin „retten“ will, sendet entsprechende Signale. Und Merkel macht aus ihrer Sympathie gegenüber Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt kein Hehl. 

Die FDP hingegen hat deutlich gemacht, daß sie sich nicht als „Notnagel“ hergeben will. Der SPD könnte eine Koalition mit CDU und Grünen in die Karten spielen, denn sie scheut Neuwahlen. Aus politischen und finanziellen Gründen. Nachdem die SPD in dem Unionsstreit lange abgetaucht war, fordert Partei- und Fraktionschefin Andrea Nahles jetzt einen Koalitionsgipfel noch im Juni. Die AfD will die Landtagswahlen im Oktober in Bayern und Hessen zu einem Plebiszit über Merkels Flüchtlingspolitik machen. Seehofers „Minischritt“, Flüchtlinge zurückzuweisen, die eine Wiedereinreisesperre oder ein Aufenthaltsverbot haben, bezeichnete Merkel bereits als Kompromiß, stellte AfD-Fraktionschef Alexander Gauland heraus. „Die Durchsetzung des Rechtsstaates ist für die Kanzlerin bereits etwas, dem sie entgegenkommen muß. Was für ein verrücktes Land ist das inzwischen geworden.“ Die von Merkel angestrebten zwischenstaatlichen Lösungen in der Asylkrise bewertete der AfD-Chef skeptisch. Statt dessen müsse Deutschland endlich selbst handeln. Wenn das Land, in das die meisten Flüchtlinge strömten, seine Grenzen schließe, würden auch die übrigen EU-Länder nachziehen und ihre Grenzen schließen, zeigte sich Gauland sicher. 

Einige der von der CSU vorgeschlagenen Maßnahmen stießen bei dem AfD-Innenpolitiker Gottfried Curio durchaus auf Zustimmung. Als Beispiel nannte er die Einstufung der Maghreb-Staaten als sichere Herkunftsländer sowie die Umstellung von Geld- auf Sachleistungen bei der Versorgung von Asylbewerbern. Daneben müsse man aber auch das Problem derjenigen Asylsuchenden angehen, die sich bereits jetzt schon zu Unrecht in Deutschland aufhielten. „Die geringe Abschiebequote, die wir in Deutschland haben, verletzt das Rechtsempfinden der Bürger“, warnte der AfD-Abgeordnete am Dienstag in Berlin.

Offen wird unter CSU-Parlamentariern mittlerweile die Frage diskutiert, ob die gemeinsame Bundestagsfraktion mit der CDU nach einem Ausscheiden ihrer Partei aus der Regierung noch aufrechterhalten werden kann. Die Fraktionsgemeinschaft besteht seit 1949, wurde 1976 wegen des schlechten Bundestagswahlergebnisses von der CSU für etwa drei Wochen aufgekündigt und anschließend bis heute fortgesetzt. Die Drohung des damaligen CDU-Chefs Helmut Kohl, man werde in Bayern „einmarschieren“, verfehlte ihre Wirkung in der Münchner CSU-Zentrale nicht. 

Mit großer Aufmerksamkeit verfolgen die Parteizentralen in diesen Tagen Wahlumfragen. Das Meinungsforschungsinstitut Insa hat gerade das mögliche Wahlverhalten bei einer bundesweiten Ausdehnung der CSU ermittelt. Danach käme die CDU auf 22, die CSU auf 18 und die AfD mit Verlusten immer noch auf elf Prozent. „Paßt scho’“? Eine Frage mit hohem Unsicherheitsfaktor.





Zurückweisung – was will Seehofer?

Sollte es keine „wirkungsgleiche“ europäische Lösung geben, möchte Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) die Bundespolizei beauftragen, Personen zurückzuweisen, die – erstmals – an die deutsche Grenze kommen und die bereits in einem anderen EU-Land registriert worden sind, bei denen es also einen Eurodac-Treffer gibt. In diesem europäischen Fingerabdruck-Identifizierungssystem Eurodac sind zwei Kategorien zu unterscheiden: Kategorie 1 gibt Auskunft über das erstmalige Schutzersuchen in einem anderen Mitgliedstaat. Kategorie 2 bedeutet, daß der Grenzübertritt des Betreffenden in einem anderen Mitgliedstaat registriert wurde. Erfaßt werden dabei nur Personen ab 14 Jahren. 2017 wurde nach Auskunft des Bundesinnenministeriums bei 60.000 Personen ein Eurodac-Treffer festgestellt. Davon fielen 77 Prozent in die Kategorie 1 und 23 Prozent in die Kategorie 2. In diesem Jahr gab es bisher 18.000 Eurodac-Treffer, wobei noch keine prozentuale Aufschlüsselung in Kategorien vorlag. In diesem Jahr hat die Bundespolizei an der deutsch-österreichischen Grenze – nur dort finden derzeit stationäre Kontrollen statt – nach eigenen Angaben bisher 2.025 Menschen zurückgewiesen. Dies waren dann zum Beispiel Personen, die ohne geeignete Papiere (Paß, Visum) einreisen wollten und die kein Schutzbegehren äußerten. Wer jedoch ein solches Schutzbegehren äußert, wird derzeit nicht abgewiesen; auch dann nicht, wenn ein Eurodac-Treffer vorliegt. In diesem Fall müssen die deutschen Behörden prüfen, welches Land zuständig ist oder sich selbst für zuständig erklären. Und sogar wenn eine Einreisesperre vorliegt, darf der Betreffende nicht zurückgewiesen werden, wenn er Asyl begehrt. Denn ihr persönliches Schutzbedürfnis könnte sich geändert haben. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot stellt kein Hindernis für das Stellen eines Schutzgesuchs dar“, heißt es seitens der Bundespolizei. Dies soll, so äußerte sich Seehofer am Montag, nun umgehend geändert werden. (vo)