© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/18 / 22. Juni 2018

„Es hat uns wie ein Schock getroffen“
Der renommierte Politologe Peter Graf von Kielmansegg über die Krise, Reform und Zukunft des „europäischen Projekts“ und die Rolle des Nationalstaates, die dieser künftig für die EU spielen sollte
Moritz Schwarz

Professor Kielmansegg, Sie sprechen vom „europäischen Projekt“. Ist das nur eine Umschreibung der EU? Oder wollen Sie ausdrücken, daß diese keineswegs deckungsgleich damit ist? 

Peter Graf von Kielmansegg: Wenn ich vom europäischen Projekt spreche, will ich damit sagen: Die europäische Staatenwelt hat sich eine bestimmte Aufgabe gestellt. Nämlich die, sich eine neue Ordnung des rechtlich verfaßten Miteinanders zu geben. Dafür gab es zwingende historische Gründe. Die Staaten zunächst Westeuropas, seit 1990 ganz Europas arbeiten mit wechselndem Erfolg seit siebzig Jahren daran. Die EU in ihrer derzeitigen Gestalt ist das, was, teils gewollt, teils ungewollt, bisher dabei herausgekommen ist. Was das konkret heißt – eine neue Ordnung des rechtlich verfaßten Miteinanders – darüber muß immer wieder neu nachgedacht werde. Und neu nachdenken heißt Erfahrungen ernst zu nehmen, die man auf dem Weg gemacht hat.

Fürchten Sie das Ende der EU?

Kielmansegg: Ich könnte und müßte zurückfragen: Was bedeutet „das Ende der EU“? Rückkehr zum Jahr 1950? Stillstand der Integration? Lähmender Dauerstreit? 

Derzeit wird gemutmaßt, ob sie vielleicht zerfallen könnte – also quasi eine Rückabwicklung der Gemeinschaft. 

Kielmansegg: Eine solche Rückabwicklung der Geschichte der EU, die über lange Zeit und in wesentlichen Strängen eine Erfolgsgeschichte war, ist nicht denkbar. Europa wird nicht wieder jener bellizistische Kontinent werden, in dem erst Dynastien und dann Nationen sich jahrhundertelang bekriegt haben. Europa hat seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts einen Modus des friedlichen, rechtlich geregelten, auf Kooperation gerichteten Zusammenlebens der Staaten entwickelt, hinter den es nicht zurückgehen wird. Auch der gemeinsame Markt wird bleiben. Seine Vorteile überwiegen für alle Beteiligten seine Nachteile. England wird das noch erfahren.

Um was geht es dann bei der Krise der EU?

Kielmansegg: Es geht um ihre Zukunft, um die Frage, was geschehen muß, damit aus der Krisengeschichte wieder eine Erfolgsgeschichte wird. Wer diese Frage beantworten will, muß allerdings der Krise ins Gesicht sehen. Er darf sie nicht kleiner reden, als sie ist. Die konventionellen Rezepte, die konventionelle Rhetorik sind da wenig hilfreich.

Was finden Sie vor, wenn Sie „der Krise ins Gesicht sehen“? 

Kielmansegg: Den Wechsel von Zeiten des Integrationsfortschritts und Zeiten der Stagnation hat es in der langen Geschichte des europäischen Projektes immer gegeben. Doch die Krise des letzten Jahrzehnts ist etwas Neues. Die Wahlergebnisse in fast allen europäischen Ländern spiegeln eine Europamüdigkeit, ja Europafeindlichkeit eines beträchtlichen Teils der Wählerschaft wider. Die Beziehungen zwischen Brüssel und einigen Mitgliedsstaaten sind äußerst angespannt. Ein großer Mitgliedsstaat ist im Begriff auszutreten. Das letzte große Integrationsprojekt, die Währungsunion, hat die EU aufs schwerste erschüttert. Der plötzliche dramatische Massenzustrom von Migranten aus dem Nahen Osten und Afrika hat Europa als handlungsunfähig bloßgestellt da, wo sich alle seine Handlungsfähigkeit, so oder so, gewünscht hätten.

Wer trägt die Verantwortung dafür? 

Kielmansegg: Schon diese Aufzählung einiger Kernelemente der Krise zeigt, daß sich „die Verantwortung dafür“ nicht leicht, schnell und bequem irgend jemandem zuordnen läßt.

Dann anders: Wer hat was falsch gemacht?

Kielmansegg: Ich denke, daß dem Experiment der Währungsunion eine Schlüsselbedeutung für den augenblicklichen Zustand der EU zukommt. Es ginge dem europäischen Projekt wahrscheinlich besser, wenn man dieses Experiment nicht oder jedenfalls nicht so forciert gewagt hätte. Mit forciert meine ich vor allem die überstürzte Ausweitung auf 18 Mitglieder. In einem kleineren Verbund von Ländern von etwa gleicher Wettbewerbsfähigkeit und einem ähnlichen Verständnis der Spielregeln hätte ein Start gelingen können, der dann auch eine allmähliche Erweiterung hätte tragen können. Die Hoffnung, daß mit der Sanierung Griechenlands alle Probleme der Währungsunion gelöst seien, trügt. Jetzt haben wir es in Italien mit mindestens einer Regierungspartei zu tun, die an den Regeln rüttelt und über das Erpressungspotential nachdenkt, das ein Land besitzt, welches zu groß ist, um im Fall eines Strauchelns aufgefangen zu werden, aber auch zu groß, als dass man es straucheln lassen könnte. Eine Währungsunion, in der die einen für das Schuldenmachen und die anderen für die Haftung zuständig sind – ich formuliere es bewußt sarkastisch –, könnte das Ergebnis sein. 

Was ist mit der sogenannten Flüchtlingskrise?

Kielmansegg: Auf ganz andere Weise hat diese die EU erschüttert. Die Schengen-Vereinbarung über die Aufhebung der Binnengrenzen ist offensichtlich ohne jeden Gedanken an die Möglichkeit eines Massenzustroms von außen getroffen worden. Was dann geschah, hat die Menschen in Europa weithin als ein Schock getroffen. Das bekommt die EU zu spüren, das bekommen auch die Staaten zu spüren.

Welche Verantwortung tragen die Politiker folglich konkret für die Krise? 

Kielmansegg: Kein Mensch macht immer alles richtig, natürlich auch Politiker nicht. Das kann schon deshalb nicht anders sein, weil bei einem so neuartigen Vorhaben wie dem europäischen Projekt oft erst im nachhinein zu erkennen ist, was „das Richtige“ gewesen wäre. War es ein Fehler der französischen Nationalversammlung, 1954 den Vertrag über die europäische Verteidigungsgemeinschaft abzulehnen? Und wenn ja, für wen? Ein Fehler, den die Politik zu verantworten hat, war sicher die überstürzte Ausweitung der Währungsunion auf Staaten, die den Anforderungen einer gemeinsamen harten Währung nicht gewachsen waren. Ein Fehler ganz anderer Art, jedenfalls der deutschen Europapolitik, war das, was ich einmal die „Sakralisierung Europas“, genauer: des Integrationsprogramms, genannt habe. 

Was verbirgt sich dahinter? 

Kielmansegg: Gefordert wurde lange Zeit nur das Bekenntnis zu mehr und immer mehr Europa. Raum für eine offene Debatte darüber, welches Mehr und wieviel Mehr sinnvoll und wünschenswert sei, gab es kaum. Stattdessen die rasche Stigmatisierung derer, die nicht einfach in das geforderte Bekenntnis einstimmen wollten, als Gegner und Feinde Europas. Man kann darin durchaus ein ideologisches Moment der Europapolitik sehen.

Könnte die Krise überwunden werden, wenn man konservativen Ideen in der EU in Zukunft mehr Raum geben würde?

Kielmansegg: Die Überzeugung, daß die europäischen Nationalstaaten wesentliche Bausteine jeder europäischen Ordnung sein müssen und sein sollten, mag man als konservativ bezeichnen. Sie ist ja nichts anderes als die Überzeugung, daß Zukunft auf Vergangenheit gebaut werden muß. 

Sind das europäische Projekt und der Nationalstaat denn Widersprüche, wie immer wieder unterschwellig unterstellt wird?

Kielmansegg: Man hat – ausgesprochen oder unausgesprochen – das europäische Projekt ursprünglich als historisch gebotenes Vorhaben der Überwindung des Nationalstaates verstanden. Inzwischen wissen wir, daß der Nationalstaat viel zu tief in der europäischen Geschichte und dem Selbstverständnis der Europäer verwurzelt ist, als daß er in überschaubaren Zeiten „überwunden“ werden könnte. Er muß zum Baustein einer neuen europäischen Ordnung gemacht werden. Dazu muß er sich wandeln. Wer fordert, er müsse und könne sich selbst zugunsten Europas aufgeben, der negiert in gewissem Sinn das „Europäischste“ an Europa.

Diese Einsicht wird allerdings doch konsequent ignoriert. 

Kielmansegg: Im Gegenteil, diese Einsicht ist inzwischen ziemlich weit verbreitet. Aber die Konsequenzen aus der Tatsache zu ziehen, daß das europäische Projekt nicht mehr als ein stetiges, in gewissem Sinn unendliches Fortschreiten eines Integrationsprogresses definiert werden sollte, fällt offenbar sehr schwer. Gegenüber diesem traditionellen Verständnis des europäischen Projektes käme es darauf an, daß die Mitgliedstaaten sich konkret darüber verständigen, welche Aufgaben sie gemeinsam in Angriff nehmen wollen, und dafür die angemessenen Handlungskonzepte und Handlungsstrukturen entwickeln. 

Was würde passieren, wenn wir auf das europäische Projekt einfach verzichten würden?

Kielmansegg: Da kann ich nur noch einmal zurückfragen: Was bedeutet das „auf das europäische Projekt verzichten“? Aus der EU ausscheiden? Gemeinsam die EU abbauen? Den Integrationsprozeß einfach anhalten? Europa wird – zumal von außen, etwa in Asien – oft als müde und alt wahrgenommen. Mit seinem Projekt, die Beziehungen der Staaten der Region zueinander völlig neu zu ordnen, ist es aber auf dem Feld der Politik der innovativste Kontinent weltweit. 

Wo wird das Projekt nach Ihrer Einschätzung schließlich einmal enden?

Kielmansegg: Zunächst, das Projekt muß viel stärker als in der Vergangenheit aufgabenorientiert fortgeführt werden. Allerdings, nicht der europäische Bundesstaat kann – ausgesprochen oder unausgesprochen – der Orientierungspunkt sein, denn dafür fehlen viele Voraussetzungen. Nein, es geht um die Bewältigung konkreter, benennbarer gemeineuropäischer Aufgaben.

Bei den USA hat man den Eindruck, „Amerikaner“ zu werden bedeutet, ein Vaterland zu gewinnen – Europäer zu sein dagegen, keines zu haben. Ist das nicht ein entscheidender Konstruktionsfehler des europäischen Projekts, der seinen Erfolg verhindert beziehungsweise vielleicht gar nicht wünschenswert macht?

Kielmansegg: Wer in die USA einwandert – in der Tat –, der will Amerikaner werden und ist stolz darauf, wenn er schließlich Amerikaner ist. Für die europäischen Länder und ihre Migranten gilt das nicht in der gleichen Weise. Sie sind fast alle mehr oder weniger integrationsschwach. Warum das so ist, darüber müßte man nachdenken. Die Frage nach dem „europäischen Vaterland“ ist jedenfalls eine ganz andere. Europäer, deren politische Loyalität primär oder gar ausschließlich der EU und nicht einem Nationalstaat gilt, dürfte es nicht viele geben. 

Warum ist das eigentlich so? 

Kielmansegg: Das ist eigentlich nicht überraschend. Denn die großen identitätsstiftenden Potenzen – eine gemeinsame Geschichte, eine gemeinsame Sprache – sind eben ganz überwiegend nicht europäischer Natur. Das bedeutet nicht, daß wir nicht lernen könnten und lernen müßten, unsere politische Identität um eine europäische Dimension zu erweitern. Die Fortschritte, die die Europäer in dieser Richtung in den vergangenen siebzig Jahren gemacht haben, sind freilich nicht gerade überwältigend. Und die erfolgreiche Wiederbelebung nationaler Ressentiments im letzten Jahrzehnt ist ein schwerer Rückschlag. Es ist in gewissem Sinne tragisch, wenn auch nicht überraschend, daß gerade der Versuch, die Integration zu forcieren – Stichwort Währungsunion –, dazu entscheidend beigetragen hat. Aber man muß diesen Zusammenhang begreifen, wenn man dem europäischen Projekt wirklich weiterhelfen will. 






Prof. Dr. Peter Graf von Kielmansegg, machte immer wieder durch pointierte Standpunkte auf sich aufmerksam. Etwa in seinem Buch „Deutschland und der Erste Weltkrieg“ (1968), in dem er gegen die damals populäre These argumentierte, die Gründung des Deutschen Reichs 1871 habe zwangsläufig zum Ersten und Zweiten Weltkrieg geführt. Der Historiker und Politologe publizierte etliche Bücher, darunter: „Nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilten Deutschland“ (2000) und „Die Grammatik der Freiheit. Acht Versuche über den demokratischen Verfassungsstaat“ (2013). Peter Graf von Kielmansegg ist Sproß einer alten Soldatenfamilie, die vor allem in den Befreiungskriegen in Dienst stand. Vater Johann Adolf gehört zu den „Vätern“ der Bundeswehr und war der erste deutsche Nato-Oberbefehlshaber für Europa Mitte, Bruder Hanno war Stabschef der Nato-Heeresgruppe Nord. Geboren 1937 in Hannover, studierte Kielmansegg Rechtswissenschaft und Geschichte und war Schüler von Eugen Kogon. Er lehrte in Köln, Washington und hatte in Mannheim einen Lehrstuhl für Politische Wissenschaft inne. Bis 2009 war er zudem Präsident der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.

Foto: Politikwissenschaftler und Historiker Kielmansegg: „Raum für eine offene Debatte darüber, welches Mehr (an EU) und wieviel Mehr sinnvoll und wünschenswert sei, gab es kaum. Stattdessen jedoch die rasche Stigmatisierung derer, die nicht einfach in das geforderte Bekenntnis einstimmen wollten, als ‘Gegner’ und ‘Feinde’ Europas“    

 

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