© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/18 / 15. Juni 2018

Mißtönender Abschluß
Ein Sammelband über die letzten Verfahren gegen NS-Verbrecher beklagt frühere Versäumnisse in der juristischen Verfolgung
Günter Bertram

Beherrschendes Thema der von Frank Lüttig und Jens Lehmann herausgegebenen Schrift über „die letzten NS-Verfahren“ ist das Lüneburger Schwurgerichtsverfahren gegen den ehemaligen SS-Unterscharführer Oskar Gröning, das im Juli 2015 mit der Verurteilung des 94jährigen zu vier Jahren Gefängnis wegen vielfacher Mordbeihilfe in Auschwitz endete. Das Urteil konnte nicht mehr vollstreckt werden, weil Gröning im März 2018 starb.

Sein Prozeß hatte weltweites Aufsehen erregt und wurde viel gelobt als gutes Ende der angeblich nur halbherzig und widerwillig betriebenen deutschen NS-Prozesse – so auch in der vorliegenden Schrift, in der Verfahrensbeteiligte, Beobachter und Angehörige von Auschwitz-Opfern zu Worte kommen. 

Um mit dem Positiven zu beginnen: Das Buch teilt eine Fülle persönlicher Berichte von Nebenklägern mit, die den satanischen Mordbetrieb von Auschwitz grell beleuchten, eigenes und fremdes Leid in bewegenden Worten schildern, und die schließlich sogar Gröning einen gewissen Respekt dafür zollen, daß er sich schon lange offen zur Wahrheit über Auschwitz bekannt hat. Tatsächlich hatte dieser schon sehr früh in Vernehmungen und öffentlich bekundet, 1942 bis 1944 in der Verwaltung des Vernichtungslagers gedient und dabei gesehen zu haben, wie die Mordprozeduren abliefen. Auch er selbst sei als ganz kleines Rädchen in die Maschinerie verstrickt gewesen. Deshalb hatte er später über die Mordaktionen, Vergasungen und Verbrechen öffentlich aufgeklärt und dabei sich mit rechtsradikalen „Auschwitzleugnern“ wie Thies Christophersen („Die Auschwitzlüge“) erbittert gestritten. Viel Dankbarkeit der Nebenkläger auch für Geduld und Feinfühligkeit, mit denen das Gericht sie habe zu Worte kommen und das bessere Deutschland von heute habe erleben lassen. 

Die Schrift verdient allerdings Widerspruch, soweit sie über dies hinaus ins Allgemeine greift. Es ist absurd zu suggerieren, NSG („Nationalsozialistische Gewaltverbrechen“) seien bisher von der Justiz nur widerwillig, halbherzig und lax verfolgt worden und hätten jetzt erst durch die moderne Praxis (München: Demjanjuk; Lüneburg: Gröning) so etwas wie eine verspätete Korrektur und unverdiente Rehabilitierung erfahren. 

Seit Gründung der Ludwigsburger Zentralstelle im Jahre 1958 sind insbesondere in den folgenden zweieinhalb Jahrzehnten große NS-Prozesse etwa über die Konzentrationslager Auschwitz, Belzec, Sobibor, Treblinka, Chelmno oder die Ghettos Warschau und Riga geführt worden, um nur wenige Namen  herauszugreifen – mit großem Ernst und Einsatz aller Beteiligten, was die Rechtsprechung der Schwurgerichte und auch der Senate des BGH einschließt. 

Immer geringere Ränge früherer Täter

Daß trotzdem Widerstände, Mängel und Unzulänglichkeiten den Weg säumten, kann nicht verwundern. Denn die Aufgabe war ungeheuer: Mit Hilfe eines Rechts, das auf normale Verhältnisse zugeschnitten war, galt es nun, im großen Stile staatlich verordnete Verbrechen zu erfassen und zu bestrafen. Die Täter, um deren Verurteilung es in den Schwurgerichten ging, waren – wie Christopher Browning (1996) zutreffend sagte – oft „ganz normale Männer“, deren Handeln für die geläufige Kriminologie unbegreiflich war. 

Erst neue Forschungen kamen diesen Fragen näher, etwa Herbert Jäger mit seinen „Verbrechen unter totalitärer Herrschaft“ (Olten 1966). Hier ist kein Platz, das umfangreiche NSG-Schrifttum auch nur zu nennen, das schon vor dem großen Auschwitzprozeß entstanden war und dann ständig vertieft wurde; eine hochkarätig besetzte Sondertagung des 46. Deutschen Juristentages vom April 1966 („Probleme der Verfolgung und Ahndung von NS-Gewaltverbrechen“ ) mag aber jedenfalls noch genannt werden. Dem Rezensenten, der beruflich als Richter selbst viele Jahre mit NS-Verbrechen befaßt war, fällt auf, wie selektiv und dürftig die umfangreiche NSG-Literatur und -Rechtsprechung berücksichtigt wird. Es trifft auch nicht zu, daß der Bundesgerichtshof (BGH) durchweg auf Entlastung der Täter ausgegangen war. Das Gegenteil läßt sich vielfach belegen.

Dazu eine allgemeinere Bemerkung: So gut auch die Lüneburger Justiz damit getan hat, den Opfern eine Stimme zu geben und sie zu hören, so unrichtig ist die These der Schrift, „Gerechtigkeit ist den Opfern geschuldet“, soweit darin unüberhörbar ein „nur“ mitschwingt.

Denn vor Gericht steht schließlich der Angeklagte, dem es „gerecht“ werden muß, indem es ihm im geregelten Verfahren seine Schuld nachweist. Diese Prämisse enthält freilich Probleme prozessualer, objektiver und subjektiver Art. Die aber sind keine willkürlich konstruierten Hürden, aufgebaut, um Schuldige laufen zu lassen, wie einige Verfasser auch hier suggerieren.

Endlich sind die laufenden letzten Verfahren gegen hochbetagte Greise kein rühmenswerter, sondern ein mißtönender Abschluß des NSG-Kapitels: Sie erstreben offensichtlich keinen praktischen Strafzweck, haben aber auch nicht den moralischen Sinn gerechter Sühne. Wie Adalbert Rückerl, der verdiente frühere Leiter der Zentralen Stelle schon 1984 nachwies, führten Zeitablauf und die wiederholte Aufhebung von Verjährungsfristen nur dazu, daß nur noch immer geringere Ränge früherer Täter verfolgt wurden. 

Daß sich diese Tendenz dann fortlaufend bis ins Extrem steigern mußte, liegt auf der Hand. Ein später Höhepunkt dessen war das Demjanjuk-Verfahren, in dem ein hinfälliger Ukrainer verurteilt wurde, der seinerzeit gar keinen deutschen SS-Rang besessen hatte, sondern als „Hilfswilliger“ und „Fremdvölkischer“ für die SS der letzte Dreck war, dem Strick oder Kugel drohten, wenn er nicht spurte. Nein, dieser Abschluß ist peinlich und verdient keinen Beifall.

Frank Lüttig, Jens Lehmann (Hrsg.): Die letzten NS-Verfahren. Genugtuung für Opfer und Angehörige – Schwierigkeiten und Versäumnisse der Strafverfolgung. Nomos Verlag, Baden-Baden 2017, broschiert, 263 Seiten, 69 Euro