© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/18 / 15. Juni 2018

Wenig Gnade bei der Tanzstundenliebe
Nach dem Rausch der Kater: Wie ein Schüler im Ruhrgebiet die 68er-Revolte erlebte
Björn Schumacher

Die 68er-Bewegung hat eine um Generationenkonflikte und gesellschaftliche Machtkämpfe kreisende Vorgeschichte. Für mich ist sie untrennbar mit der Popmusik verknüpft. Zu Beginn der sechziger Jahre lauschte ich andächtig der WDR-Hörfunksendung „Musik aus Studio B“, wo „Diskjockeys“ wie Chris Howland deutsche und internationale „Schlager“ vorstellten. Die flüchtige Schwärmerei des damals zehnjährigen Schülers für Connie Francis, Cliff Richard oder Vico Torriani schlug in helle Begeisterung um, als die Beatles 1964 die Hitparaden stürmten. Ihre effektvollen Wechsel zwischen wildem Rock ’n’ Roll und melodischen Vokalharmonien ließen „Backfische“ (weibliche Jugendliche) in Ekstase geraten.

Daß die Beatles auch provozierten, dämmerte mir, als sich Lehrer über „Pilzköpfe“ und „anglo-amerikanischen Jazz“ mokierten. Diese spürbare Distanz gegenüber dem Neuen Kontinent kontrastierte stets mit der vollmundig propagierten deutsch-amerikanischen Freundschaft. Frühere Feindbilder des American Way of Life wie Coca Cola und Comic-Hefte mit „erbärmlichem Gestammel“ rückten dagegen in den Hintergrund. Etwas länger hielt sich die verdeckte CDU-Propaganda unserer katholischen Geistlichen in Gelsenkirchen. In vertrauter Regelmäßigkeit warnten sie vor der Stimmabgabe für „unchristliche Politiker“. Gemeint waren im damaligen Dreiparteien-System SPD und FDP.

Jimi Hendrix zerfetzte die US-Nationalhymne

Die kommerziellen Verwertungszyklen wurden unterdes kürzer. Als die Beatles 1966 experimenteller musizierten, drängten britische Bands mit hämmernden Akkorden ins Rampenlicht: die Kinks („You Really Got Me“), The Who („My Generation“) und die Rolling Stones (I Can’t Get No Satisfaction“), deren Texte pubertierenden Jünglingen viel Identifikationsstoff boten. Man erfuhr von Umwälzungen der amerikanischen Popmusik: von einem Sänger/Songschreiber namens Bob Dylan, der mit Bürgerrechtlern wie Martin Luther King am denkwürdigen „Marsch auf Washington“ (28. August 1963) teilgenommen hatte und neben dem Vietnamkrieg den unkritischen Umgang mit Autoritäten anprangerte („Subterranean Homesick Blues“), von einem Virtuosen namens Jimi Hendrix, der beim Woodstock-Festival 1969 die amerikanische Nationalhymne mit seinen Gitarrenläufen zerfetzte, sowie von sex-, drogen- und friedensbewegten Hippies, die den „Flower-Power-Sommer“ 1967 und Woodstock zur Heerschau einer neuen Subkultur machten.

Eine teils hippiesanfte, teils heftig rockende Popkultur, wütende Proteste gegen den Vietnamkrieg sowie eine diffuse Revolte gegen Eltern, Lehrer und andere Autoritäten – diese Mixtur wurde zur Initialzündung der westdeutschen 68er-Bewegung. Deren Erweckungserlebnis kam am 2. Juni 1967, als der Student Benno Ohnsorg bei einer Anti-Schah-Demonstration von einem Polizisten erschossen wurde. Plötzlich interessierte sich auch das Ruhrgebiet für das Berliner Geschehen. Fünfzehn Jahre alt, fand ich bei meiner Tanzstundenliebe wenig Gnade, weil ich kürzere Haare hatte als „der Fritz“. Sie meinte nicht etwa Friedrich den Großen, sondern den Polit-Clown Fritz Teufel. Dieser gehörte zur „Kommune 1“, einer hippieartigen Wohngemeinschaft, deren Spruch „Wer zweimal mit derselben/demselben pennt, gehört schon zum Establishment“ zur Magna Charta eines neuen Hedonismus avancierte.

Konfrontation mit neuen Denkwelten

Rasch sprach sich herum, daß nicht Fritz Teufel und sein Mitkommunarde Rainer Langhans die aufmüpfigen Berliner Studenten anführten, sondern ein extravertierter Marxist namens Rudi Dutschke. Als dieser am 4. Februar 1968 zu einer Podiumsdiskussion mit Johannes Rau, SPD-Fraktionsführer im nordrhein-westfälischen Landtag nach Wattenscheid (heute Bochum-Wattenscheid) kam, saß ich im Auditorium. Daß der spätere Bundespräsident Rau geordneter argumentierte als Dutschke, daß er diesen über die Arbeiterbewegung an der Ruhr und diverse Grundgesetzartikel aufklären mußte, interessierte kaum jemanden. Wen kümmerte am Vorabend einer von Dutschke prophezeiten „Revolution“ das Grundgesetz? Das jugendliche Publikum feierte ihn frenetisch und skandierte pseudorevolutionären Flachsinn: „Brecht dem Schütz die Gräten, alle Macht den Räten“ – eine Anspielung auf den Regierenden Bürgermeister von Berlin, Klaus Schütz, und die von Dutschke vehement geforderte kommunistische Räterepublik West-Berlin.

Da ich mir fleißig Notizen gemacht hatte, ließen sich Dutschkes Sätze als wilde Abfolge von Marx-, Lenin- und Trotzki-Zitaten identifizieren. Auch Theodor W. Adorno  – „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ – fehlte nicht. Ich malte mir aus, daß ein kluger Altphilologe meines Schalker Gymnasiums diesen Satz förmlich aufsaugen und in sein Sammelsurium wohlfeiler Aphorismen einflechten würde.

Für den damals sechzehnjährigen Schüler war die Veranstaltung eine Konfrontation mit neuen Denkwelten. Mein Vater hatte mir erzählt, daß Karl Marx ein Vordenker der Arbeiterbewegung war, der den Philosophen Friedrich Hegel beklagenswert falsch ausgelegt habe. Daß sich mein badisch-rheinischer Vater hier als gesinnungspreußischer „Rechtshegelianer“ offenbarte, wurde mir erst später bewußt. Obwohl ich nie zum 68er mutierte und den spekulativen Geschichtsentwürfen von Marx, aber auch Hegel stets skeptisch gegenüberstand, weckte die Aufbruchstimmung jener Zeit mein Interesse an philosophischer und politischer Aufklärung.

Bei alledem fand ich Dutschke sympathisch. Sein offenkundiger Idealismus, seine strähnigen, mit der rechten Hand durchwühlten Haare und sein stechender Blick verliehen ihm Charisma. Um so größer war der Schock, als sich am 11. April 1968 die Nachricht vom Attentat auf diese Galionsfigur der Studentenbewegung verbreitete. Ein Berliner Arbeiter, Leser von Bild und National-Zeitung, hatte Dutschke mit zwei Kopfschüssen niedergestreckt. In westdeutschen Großstädten folgten die berüchtigten „Osterunruhen“: gewaltsame Blockaden gegen die Auslieferung der Bild-Zeitung und anderen Springer-Blättern. Erleichtert registrierte ich die Osterausgabe von Bild am Sonntag mit der Artikelüberschrift „Dutschke flucht wieder“.

Als zweite Hochburg der Studentenbewegung etablierte sich Frankfurt am Main. Neomarxistische Philosophen der „Frankfurter Schule“ wie Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Jürgen Habermas und Herbert Marcuse erlangten ab 1968 Kultstatus. Der Deutschunterricht am Schalker Gymnasium geriet derweil zum Forum für Gesellschaftskritik. Lesestoff waren Max Frisch, Heinrich Böll, Jerome D. Salinger und Hans Magnus Enzensberger. Dessen literarischer Imperativ von 1957 „Lies keine Oden, mein Sohn, lies die Fahrpläne, sie sind genauer“ las sich wie ein Stichwortgeber für Bob Dylan („Don’t follow leaders, watch the parkin’ meters“). Zugleich irritierte er mich. Forderte Enzensberger etwa die Selbstaufgabe deutscher Kultur? Wollte er einen philosophischen Marschbefehl Adornos vollstrecken, der 1949 dekretiert hatte: „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“?

Oberstudiendirektor sollte „weggestreikt“ werden

Wie einflußreich die antiautoritäre Revolte inzwischen an Schulen war, zeigte sich im Dezember 1969, als der Oberstudiendirektor des Schalker Gymnasiums „weggestreikt“ werden sollte. Daß der einwöchige, letztlich erfolglose Streik illegal war, interessierte deren Drahtzieher nur am Rande. Der Direktor habe auf den Schultoiletten nach Rauchern gefahndet, bei einer Klassenfahrt nach Griechenland die dortige Militärdiktatur verharmlost („alles halb so wild“) und sei überhaupt „ein schlimmer Mensch“ – so lauteten die in den Klassenzimmern und der Aula verbreiteten Parolen. Rückschauend betrachtet war das eine frühe Manifestation jener Hypermoral, die für die heutige Linke so charakteristisch ist.

Das steigerte sich noch in den siebziger Jahren. Ein dogmatischer Kommunismus wurde Teil meines studentischen Alltags – an den Universitäten Bochum und Göttingen, wo maoistische K-Gruppen immer radikaler den „vorpolitischen Raum“ ausfüllten. Bürgerliche Rückzugsräume fanden sich an den von mir erwählten Fakultäten der Rechtswissenschaft und Philosophie. Sie konnten mein Entsetzen über den aufbrandenden Linksterror nicht verdrängen. Nach dem Hungerstreik-Tod des RAF-Kriminellen Holger Meins am 9. November 1974 kam es zu einem Brandanschlag auf den Göttinger Busbahnhof. Am 25. April 1977 bekundete ein „Göttinger Mescalero“ seine „klammheimliche Freude“ über die Ermordung von Generalbundesanwalt Siegfried Buback. Daß diese Psychopathologie noch steigerungsfähig war und in unverhohlene offene Freude umschlagen konnte, erlebte ich in der Diskussion mit einer linksextremen Soziologiestudentin.

Waren die siebziger Jahre das eigentliche ‘68? Fast alles, was man mit der Studentenbewegung assoziiert, entstand oder verstärkte sich richtungweisend von 1970 bis 1985. Das gilt für die Öko-, die Anti-AKW-, die Friedens- und in besonderem Maße für die Frauenbewegung. Die Aktivistinnen der sechziger Jahre waren eher Mitläuferinnen. In den frühen Liedtexten der Rolling Stones wurde die Frau als Dummchen verspottet oder als Lustobjekt zur Schau gestellt. Auch der Nationalmasochismus, die reflexhafte Ablehnung und Geringschätzung alles Deutschen, spielte zunächst eine untergeordnete Rolle. Dutschke mag nicht jener „Nationalrevolutionär“ gewesen sein, den sein Mitstreiter Bernd Rabehl heute in ihm erkennen will. Ein ungebrochenes Verhältnis zum Vaterland hatte er allemal.





Ausstellungen zu 1968

Die Caricatura – Galerie für Komische Kunst in Kassel zeigt bis zum 12. August die 68er in Cartoons und geht dabei der Frage nach, was aus den Protagonisten von damals geworden ist. Regionale Aspekte rücken zwei Ausstellungen im oberschwäbischen Biberach und in Göttingen in den Mittelpunkt. Im Museum Biberach zeigt die schlicht „1968“ benannte Schau, wie eine „etablierte Stadtgesellschaft in einer Welle harter Konflikte von einer kleinen Gruppe aus Studenten und Gymnasiasten – der Biberacher APO – herausgefordert“ wurde (bis 14. Oktober). „Klappe auf! 68er-Bewegung in Göttingen“ lautet der Titel der dortigen Ausstellung im Städtischen Museum, die bis zum 2. September zu sehen ist. Im Stadtmuseum Karlsruhe heißt es „Bewegt euch! 1968 und die Folgen in Karlsruhe“. Die Schau geht bis zum 14. Oktober. Das Ludwig Forum in Aachen widmet sich den Ideen, Aktionen, Mythen und Selbst-Deutungen einer Generation im Spiegel ihrer künstlerischen Produkte und Praktiken. Die Ausstellung „Flashes of the Future. Die Kunst der 68er oder Die Macht der Ohnmächtigen“ kann bis zum 19. August besucht werden. Um  Schülerproteste 1968–1972 („Klassen-Kämpfe“) geht es bis zum 22. Juli im Museum für Kommunikation Frankfurt. (tha)

 www.caricatura.de

 www.museum-biberach.de

 http://ludwigforum.de

 www.mfk-frankfurt.de