© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/18 / 15. Juni 2018

Unterschwellige Verbindungen
Realistische Malerei: Ausstellung „Visionäre Sachlichkeit“ im Kunsthaus Zürich
Sebastian Hennig

Kunstmuseen locken die Besuchermassen zu den markierten Sensationen. Raffaels Sixtinische Madonna, die Mona Lisa im Louvre oder den Isenheimer Altar muß man gesehen haben. Dann sind spektakuläre Sonderausstellungen abzuarbeiten. Still dagegen ruhen stets die Sammlungsbestände als ein ungehobener Schatz. Dabei gibt es auch in den Nebenräumen der Galerien manches zu entdecken. Nicht immer ist es notwendig, Leihgaben aneinanderzureihen. Eine leichte Veränderung der Beziehungen bekannter Werke zueinander und eine Aushebung der im Depot verschlossenen Bestände können ausreichen.

Es mag wohl sinnvoll sein, Gemälde chronologisch nach ihrer Entstehung oder nach lokalen Schulen abzuteilen. Unbemerkt bleibt dadurch aber eine zuweilen geheimnisvolle Übereinstimmung zwischen Bildern aller Zeiten. Unter dem Titel „Visionäre Sachlichkeit“ arrangiert das Kunsthaus Zürich eine Auswahl von Kunst der Naiven, der Symbolisten, der Neuen Sachlichkeit und des Surrealismus aus seinem eigenen Bestand – in der Absicht, unterschwellige Verbindungen zwischen diesen Positionen sichtbar werden zu lassen. Der Zusammenklang gibt zugleich Auskunft über die Motivation realistischer Malerei. 

In seinem berühmten Rundgang durch den Louvre rubrizierte Paul Cézanne gegenüber seinem jungen Begleiter Joachim Gasquet, jede Form linear-realistischer Malerei von der italienischen Frührenaissance bis zum französischen Klassizismus der David und Ingres als naiven Primitivismus. Die in Zürich gezeigten Bilder hätte er ausnahmslos mit einbezogen, denn sie verbergen ebenso allesamt ihre Machart hinter ihrer Schauseite. Die Anlehnung an die Alten bekundet jene kleine Kopie nach dem Bild „Der heilige Julian erschlägt seine Eltern“ des Frührenaissancemalers Masaccio von Niklaus Stoecklin (1896–1982), einem Schweizer Maler der Neuen Sachlichkeit.

Traumwelten und Wirklichkeit illustriert 

Die Surrealisten waren wie die meisten kurzlebigen Kunstbewegungen jener Jahre in der Hervorbringung von Deklarationen und Manifesten fruchtbarer als im Erzeugen von Bildern. Wortreich beschworen sie, was andere schon ohne verlautbarte Prinzipien praktiziert hatten. Sie haben die damals schon aus der Mode gekommene Traummalerei eines Arnold Böcklin, hier in der Züricher Ausstellung mit einem bocksbeinigen Pan in „Frühlingserwachen“ (1880) vertreten, ebenso für sich in Anspruch genommen wie die ungewollten Verformungen, die dem manischen Darstellungstrieb der Naiven entsprangen. Die Surrealisten Magritte, Dalí und Tanguy setzten ihre Traumwelten ebenso illustrativ in Szene, wie die Naiven, Bombois, Vivin und Lascaux die Wirklichkeit illustrieren. In der manischen Unbeholfenheit, die aus der jeweiligen Verstiegenheit ihrer Ambitionen resultiert, sind sie sich durchaus ähnlich. Die Professionellen wollten das Phantastische mit bildnerischen Mitteln verwirklichen, während sich den Naiven ungewollt die Wirklichkeit zur skurrilen Phantasie verzerrt.

Verdichtung zu großen Formzusammenhängen

Sechs Gemälde des gebürtigen Schweizers Félix Valloton (1866–1925) wirken als Gelenke zwischen diesen Positionen. Denn der Maler läßt sich keiner Doktrin zuschlagen. Lange vor der Neuen Sachlichkeit und dem Neoklassizismus hat er einen strengen Stil für sich gefunden, dessen Äußerliches gleichwohl geheimnisvoll bleibt. Bereits 1891 rühmte er die Bildkraft des Zöllners Henri Rousseau. Vallotons um diese Zeit entstandene Darstellung eines Krankenlagers „La malade“ (1892) ist mit strenger Konturierung und lebenskräftigen Lokalfarben an der niederländischen Genremalerei des 17. Jahrhunderts geschult. Es läßt erahnen, was ihn zur Lobpreisung des Freizeitmalers bewogen hat. Die Innigkeit und den Ernst in der Kunstausübung, den er bei den professionellen Zeitgenossen vermißte, endeckte er in den Werken des unbefangenen Rousseau. 

Die Zuschreibung einer naiven Malerei bleibt problematisch. Denn jede Kunstausübung trägt das Streben nach einer Verdichtung zu großen Formzusammenhängen in sich. Was der Autodidakt Rousseau nach und nach an Naivität eingebüßt hat, ist seiner Malerei zugute gekommen. Der Naive, der sich gar nicht entwickelt, bleibt eben einfach ein Dilettant.

Freilich gibt es auch versierte Künstler, die absichtsvoll vereinfachen. Niklaus Stoecklin malte auf „Bildnis meiner Frau“ (1930) dieser ein plakatives Gesicht und dafür Hände voller Leben. Die Spitzenborte des blauen Kleides hat er dann wieder stupid aufgepinselt, wie ein Porzellanmaler den Rand eines Tellers verziert. Unverkennbar ist seine Meisterschaft in der Behandlung des Hintergrunds, der größeren Flächen und des Helldunkel. Der naive Adolf Dietrich (1877–1967), von dem die Ausstellung 15 Bilder aufweist, streicht solche Stellen nur an, denn er bedarf klarer Informationen zur Darstellung im Bild. Wo kein Zweig, kein Haar und keine Falte eine malerische Intervention rechtfertigt, da gelingt ihm nur eine ratlos eingefärbte Flächigkeit. 

Das Kunsthaus Zürich hat über Jahrzehnte hinweg eine beträchtliche Sammlung an naiver Malerei zusammengetragen bis hin zu einer sehr unbedarften Winterszene „The Olden Bucket“ (1949) von Grandma Moses. Gemälde von Edgar Degas und Ferdinand Hodler unterstreichen die unbefangene Darstellungsfreude, in der alle diese Maler übereinstimmen.

Die Ausstellung „Visionäre Sachlichkeit: Magritte, Dietrich, Rousseau“ ist noch bis zum 8. Juli im Kunsthaus Zürch, Heimplatz 1, täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr, Mi./Do. bis 20 Uhr, zu sehen. Telefon: 00 41 / 44 / 253 84 84

Das Begleitbuch mit 96 Seiten und 54 farbigen Abbildungen kostet 19 Euro.

 www.kunsthaus.ch/